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Kein Grund zur Bescheidenheit!

Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes fordern sechs Prozent mehr Lohn, mindestens aber 200 Euro. In den vergangenen Tarifrunden sind bereits Reallohnsteigerungen durchgesetzt worden. Wäre es also Zeit für Zurückhaltung?

Wir meinen: Nein, ganz im Gegenteil. Warum sollten die Beschäftigten bescheiden sein, wenn die Wirtschaft brummt und die Steuereinnahmen sprudeln? Warum sollten sie bescheiden sein, wenn der Reichtum im Land immer ungleicher verteilt wird – zu Lasten der Lohneinkommen? Warum auf angemessene Lohnsteigerungen verzichten, wenn die öffentlichen Haushalte Überschüsse verbuchen, während es an allen Ecken und Enden an qualifizierten Fachkräften fehlt? Es gibt keinen Grund zur Bescheidenheit – sondern viele gute Gründe, die Gehälter im öffentlichen Dienst kräftig zu erhöhen.

Es kommt nicht oft vor, dass die Gewerkschaften von großen internationalen Unternehmensberatungen Argumente geliefert bekommen. Umso bemerkenswerter, dass die Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers (PwC) in einer Prognose 2017 errechnete, dass der öffentliche Dienst vom Fachkräftemangel noch mehr als andere Branchen betroffen sein werde. Die Generation der Babyboomer, die bis 2030 in den Ruhestand geht, wird demnach im öffentlichen Dienst für einen Generationswechsel sorgen, der weit über die übliche Fluktuation hinausgeht. Und das in einem Umfeld, in dem die Aufgaben und damit die Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer komplexer werden. Der Staat, mahnt PwC, müsse Geld investieren, um Gehaltsstrukturen anzupassen, Digitalisierungsprojekte voranzutreiben und aktiv für seine Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu werben. Zudem fordern die Unternehmensberater eine wertschätzende Vertrauenskultur statt Kontrolle. Damit stehen sie nicht allein. Bereits 2012 mahnte die Unternehmensberatung McKinsey: Nachwuchsprobleme bedrohten die Handlungsfähigkeit vieler Verwaltungsbehörden.

110.000 Stellen fehlen

Der Bedarf ist da: Nach Jahren des Personalabbaus steigt zwar die Beschäftigtenzahl im öffentlichen Dienst seit 2011 wieder leicht an – allerdings nicht genug, wie eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) von 2016 deutlich macht. Um dem Bedarf an öffentlichen Dienstleistungen gerecht zu werden, wäre ein Personalaufwuchs nötig, der weit darüber hinausgeht, jene Kolleginnen und Kollegen zu ersetzen, die in den Ruhestand gehen. Insgesamt fehlen den Berechnungen der HBS zufolge mindestens 110.000 Vollzeitstellen. Besonders groß sei die Not bei der Kinderbetreuung und in den Finanzverwaltungen, aber auch bei der Polizei und im Schulbereich. Die Bertelsmann Stiftung kam 2016 zu dem Ergebnis, deutschlandweit fehlten allein in Kindertagesstätten über 100.000 Vollzeitstellen, um eine umfassende Betreuung bei angemessenem Personalschlüssel zu gewährleisten.

Die öffentlichen Arbeitgeber wissen genau, dass sie attraktiver werden müssen. Sie geben viel Geld für eine Imagekampagne mit dem Titel „Die Unverzichtbaren“ aus: „Hier erfahrt Ihr, was Deutschlands größter Arbeitgeber so alles zu bieten hat und wie Ihr selbst zu den Unverzichtbaren werden könnt, die dafür sorgen, dass unser Staat funktioniert“, heißt es auf der Startseite. Wenn es jedoch darum geht, die Arbeitsbedingungen attraktiver zu gestalten, stehen sie auf der Bremse. Dann sind sie nicht bereit, das Befristungsunwesen einzudämmen – hier ist der öffentliche Dienst weiterhin trauriger Spitzenreiter. Dann fehlt es ihnen an Fantasie, den Generationenwechsel so zu gestalten, wie es andere Branchen längst vorgemacht haben: Etwa mit Entlastungen für ältere Kolleginnen und Kollegen, damit diese gesund bis zur Rente kommen, sowie mit Qualifikations- und Entwicklungsangeboten für die Jüngeren.

Warum sollten die „Unverzichtbaren“ auf eine Lohnentwicklung verzichten, die sich mindestens auf dem Niveau der Gesamtwirtschaft bewegt?

Auch wenn es ums Gehalt geht, ist der öffentliche Dienst weiter im Hintertreffen. Bezogen auf das Basisjahr 2000 stiegen die Tariflöhne nach Angaben des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der HBS in der gesamten Wirtschaft bis 2016 um 44,8 Prozent, im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen dagegen nur um 40,6 Prozent. Warum sollten die „Unverzichtbaren“ auf eine Lohnentwicklung verzichten, die sich mindestens auf dem Niveau der Gesamtwirtschaft bewegt?

Zugleich liegt die Entwicklung der Lohneinkommen noch immer hinter den Unternehmens- und Vermögenseinkommen zurück, wenn es um die Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands geht. Um diese Schere zu schließen, müssten die Lohneinkommen stärker wachsen als die Teuerungsrate (Inflation) plus Arbeitsproduktivität. Mit ihren Tarifforderungen wollen die Gewerkschaften diesen sogenannten „verteilungsneutralen Spielraum“ überschreiten, um eine Umverteilung zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erreichen.

Boomende Wirtschaft

Am fehlenden Geld jedenfalls wird es nicht scheitern. Die halbjährlichen Steuerschätzungen, die die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute im Auftrag des Bundesfinanzministeriums vornehmen, eilen seit mehreren Jahren von Rekord zu Rekord. In der Novemberschätzung wurden die Steuereinnahmen der Kommunen für 2017 gegenüber der Schätzung vom Mai um 1,8 Milliarden Euro nach oben korrigiert. Das macht im Ergebnis für 2017 ein Plus von 6,7 Prozent! Für die nächsten drei Jahre wurde die Prognose um weitere zwölf Milliarden Euro angehoben. Das IMK rechnet in seinem „Prognose-Update“ vom Dezember 2017 für das laufende Jahr mit einem Budgetüberschuss in Höhe von 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Aus den Koalitionsverhandlungen wurde Anfang 2018 berichtet, die erwarteten Steuereinnahmen für die nächsten vier Jahre seien erneut nach oben korrigiert worden. Der finanzielle Spielraum sei so groß wie nie zuvor.

Grundlage der guten Prognosen ist eine anhaltend positive Wirtschaftsentwicklung, die nicht zuletzt durch staatliche Investitionen in die Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen gestützt wird. Das gibt den privaten Unternehmen Sicherheit, damit sie ihrerseits im Inland investieren. So stiegen 2017 endlich auch die Bau- und die Ausrüstungsinvestitionen spürbar (laut IMK um 3,5 bzw. 4,3 Prozent); auch die „sonstigen Anlageinvestitionen“ – Forschung und Entwicklung, Software und Datenbanken sowie anderes geistiges Eigentum – legten kräftig zu. Zuvor war das Wachstum außer von privatem Konsum vor allem von Exporten getragen worden.

Regierung in der Pflicht

In dem Koalitionsvertrag einer möglichen GroKo – bei Drucklegung der E&W lag das Ergebnis der Abstimmung der SPD-Mitglieder noch nicht vor – heißt es: „Mehr Geld für Kitaausbau, Entlastung von Eltern bei den Gebühren bis hin zur Gebührenfreiheit. Steigerung der Qualität in der Kinderbetreuung.“ Nun kommt es darauf an, dass diese Ziele auch mit den entsprechenden Haushaltsmitteln unterfüttert werden. Dafür reichen die vom Bund zusätzlich für die gesamte Legislaturperiode in Aussicht gestellten Mittel bei weitem nicht aus.

Weiter heißt es in dem Koalitionsvertrag: „Der Bund setzt sich intensiv für eine Verbesserung der kommunalen Finanzlage und eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung ein. (...) Unser Ziel sind gleichwertige Lebensverhältnisse in handlungs- und leistungsfähigen Kommunen in städtischen und ländlichen Räumen, in Ost und West.“ In der Tat stecken trotz der Überschüsse, die alle Kommunen in der Summe erzielen, manche Kommunen weiter tief in den roten Zahlen und können mit ihren Einnahmen nicht einmal die laufenden Ausgaben decken. Diese Schieflage zu beseitigen, ist überfällig. Nur wenn alle Kommunen wirtschaftlich handlungsfähig sind, können sie auch Gehaltssteigerungen zahlen und qualifizierte Fachkräfte gewinnen. Solange sie finanziell so klamm sind, drohen sie mit Tarifflucht und Austritt aus dem kommunalen Arbeitgeberverband. Diese Drohung wird den Gewerkschaften dann in den Tarifrunden entgegengehalten. So teilte auch der Präsident der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), Thomas Böhle, im Februar in einer Pressemitteilung mit: „Wir können nur Lösungen anbieten, die sich alle Kommunen leisten können und müssen die wachsende Kluft zwischen ärmeren und reicheren Kommunen berücksichtigen.“

Im Koalitionsvertrag wird schließlich noch angekündigt, dass die neue Regierung im Krankenhausbereich „eine vollständige Refinanzierung von Tarifsteigerungen herbeiführen [wird], verbunden mit der Nachweispflicht, dass dies auch tatsächlich bei den Beschäftigten ankommt“. Für den Kita-Bereich wird dergleichen leider nicht in Aussicht gestellt. Hier bleibt die Refinanzierung freier Träger vielerorts unzureichend. Damit besteht weiterhin der Anreiz für Kommunen, ihre Einrichtungen an private Träger zu geben, die deutlich unter Tarif zahlen. Dem setzt die GEW ihre Kampagne „Tariflohn für alle“ entgegen.

Wenn die Verteilung des reichlich vorhandenen Geldes zwischen den verschiedenen staatlichen Akteuren nicht funktioniert, muss das politisch gelöst werden – und nicht auf dem Rücken der Beschäftigten.

Die Arbeitgeber bezwecken mit ihrer Privatisierungsdrohung jedoch etwas Anderes: Da versuchen viele Reiche sich hinter den wenigen armen Brüdern zu verstecken und rufen: „Wir haben kein Geld!“ Auf dieses Spiel werden sich die Gewerkschaften nicht einlassen. Wenn die Verteilung des reichlich vorhandenen Geldes zwischen den verschiedenen staatlichen Akteuren nicht funktioniert, muss das politisch gelöst werden – und nicht auf dem Rücken der Beschäftigten.

Wenn mehr in Bildung und in kommunale Infrastruktur wie Kitas und Schulgebäude investiert wird, ist das gut und entspricht einer langjährigen GEW-Forderung. Das Geld muss aber nicht zuletzt bei den Beschäftigten ankommen, die die Maßnahmen vor Ort mit Leben füllen sollen. Die Metallbranche hat die Messlatte hoch gelegt: Dort einigte man sich Anfang Februar auf eine Lohnsteigerung von 4,3 Prozent ab April diesen Jahres plus Einmalzahlung in Höhe von 100 Euro für die Monate Januar bis März 2018. Ab 2019 erhalten die Beschäftigten ein „tarifliches Zusatzgeld“ in Höhe von 27,5 Prozent eines Monatsentgeltes. Beschäftigte mit Kindern, pflegebedürftigen Angehörigen oder in Schichtarbeit können dieses Zusatzgeld in acht zusätzliche freie Tage umwandeln. Das sind rechnerisch zwei Tage mehr als die 27,5 Prozent. Diese Differenz wird faktisch von den Arbeitgebern finanziert. Aufs Jahr gerechnet bedeutet der Abschluss mindestens eine drei vor dem Komma.

Alles in allem gilt: Jetzt ist nicht die Zeit für falsche Bescheidenheit im öffentlichen Dienst.