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Kooperation auf allen Ebenen

Was muss sich wie auf welchen Ebenen ändern, damit Inklusion in schulischer Praxis gelingen kann – und pädagogisches Engagement nicht ins Leere läuft?

Seit dem Kongress von Salamanca über "Special Needs Education" 1994 und nicht zuletzt der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen - die Deutschland 2007 unterzeichnet hat, 2009 trat sie in Kraft - ist Inklusion klar definiert: eine diskriminierungsfreie Teilhabe aller Menschen an Gesellschaft und Bildung, unabhängig von Alter, sozialer, kultureller oder ethischer Herkunft, Fähigkeiten, Geschlecht, sexueller Orientierung oder körperlicher Verfassung.

Idee und Praxis der Inklusion stehen damit im Widerspruch zu einer Gesellschaft, in der es nach wie vor vielfältige Mechanismen der Ausgrenzung gibt. Diesen entspricht eine Sozial- und Bildungspolitik, welche die Spaltungen verstärkt. Das Konzept der Inklusion zielt auf eine andere, sozialere und demokratischere Sozial- und Bildungspolitik ab. Das heißt allerdings: Inklusion ist kein Zustand, der sich von heute auf morgen herstellen lässt, sondern ein tiefgreifender systemischer Transformationsprozess. Er sollte am Ende allen Lernenden zugutekommen und die angstfreie Entfaltung der Persönlichkeit und ihrer Interessen im Kontext einer solidarischen Lerngemeinschaft ermöglichen.

Kein Einzelkämpfertum

Die Frage ist nun: Wie kann diese Entwicklung angesichts einer ihr widersprechenden politischen und strukturellen Ausgangslage gelingen? Und was können wir als pädagogische Expertinnen und Experten dazu beitragen? Um das zu beantworten, sind die Ebenen zu unterscheiden, auf denen dieser Prozess stattfinden muss:

  • Die professionelle: Nach wie vor werden Lehrkräfte ungenügend auf die Heterogenität im Klassenzimmer vorbereitet. Selbstreflexion und das Fördern inklusiver Einstellungen spielen in der pädagogischen Ausbildung fast noch keine Rolle. Auch die Fachdidaktik und die Bildungswissenschaften bieten kaum Grundlagen für eine inklusive Pädagogik. Ansätze zu einer inklusiven Lehrkräftebildung hat das "Zukunftsforum Lehrer_innenbildung" der GEW in seinen Leitlinien skizziert. Darin hält die Bildungsgewerkschaft fest, dass Inklusion alle Teildisziplinen betrifft. Nicht zuletzt geht es um eine professionelle Haltung, die in allen Phasen der Fachkräfteausbildung Thema sein sollte. Hierzu gehören die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen, die Offenheit gegenüber dem Fremden und Neuen sowie das reflexive Bearbeiten von Ängsten und Vorurteilen. Auch das in der professionellen Sozialisation angelegte Einzelkämpfertum der Lehrkräfte ist eher hinderlich, will man inklusive Schul- und Unterrichtsformen umsetzen. Für den inklusiven Unterricht brauchen Pädagoginnen und Pädagogen daher Unterstützung durch ein entsprechendes Fortbildungsangebot sowie Freiräume, damit sie dieses auch nutzen können.
  • Die institutionelle: Eine wichtige Bedingung für den Erfolg inklusiver Bildung ist die Kooperation auf allen Ebenen. Dies betrifft sowohl das gemeinsame Lernen der Kinder und Jugendlichen als auch die fachliche und pädagogische Zusammenarbeit der Lehrkräfte und der multiprofessionellen Teams. Gemeinsame pädagogische Überzeugungen sowie der Inklusion gegenüber positiv eingestellte Schulleitungen fördern Team-Strukturen. Dies war unter anderem auch das Ergebnis einer aktuellen Studie von Prof. Rolf Werning an niedersächsischen Grundschulen. Die Akzeptanz und der Erfolg inklusiver Bildung waren an jenen Schulen am größten, an denen es gelang, kooperative Strukturen aufzubauen. Auch Untersuchungen zur Berufszufriedenheit der Lehrkräfte zeigen, dass diese an Schulen, an denen es eine verlässliche Zusammenarbeit gibt, am höchsten ist. Deshalb fordert die GEW, die Unterrichtsverpflichtung zu senken sowie Kooperationszeiten und -räume für alle bereit zu stellen.
  • Die bildungspolitische: Leider verstehen die meisten Bildungspolitiker unter "Inklusion" allenfalls einen sonderpädagogischen Anbau der bestehenden Strukturen. Dieser "Anbau" soll zudem noch möglichst kostenneutral sein. Demzufolge reagiert Politik auf die Diversität der Lerngruppen einerseits, indem sie separierende Schulstrukturen beibehält - andererseits, indem sie einer naiven Testgläubigkeit verfällt. Denn weder die Bildungsstandards noch deren Überprüfung haben die Kultusminister an inklusive Settings angepasst. Auch die Themen Diskriminierungsfreiheit, Demokratie und Kooperation spielen keine Rolle. Stattdessen wird so getan, als könne man durch entsprechende Tests, Etikettierungen und Lernmaterialien inklusive Schulen entwickeln. Auch versucht Bildungspolitik weiterhin, Inklusion innerhalb bestehender, ihr widersprechender schulischer Strukturen umzusetzen - und zwar meist ohne entsprechende Rahmenbedingungen. Paradox genug, dass Lehrkräfte in einem separierenden, chronisch unterfinanzierten Schulsystem inklusive Prozesse in Gang bringen sollen.

Klar ist: Alle drei Ebenen greifen ineinander. Unsere Aufgabe als Bildungsgewerkschaft ist es, professionelle Weiterentwicklung zu stärken, Zusammenarbeit und Kooperation in den Institutionen voranzubringen. Wir müssen von der Politik mit allem Nachdruck die Rahmenbedingungen und Ressourcen einfordern, die zum Gelingen inklusiver Bildung notwendig sind. Bis wir dieses Ziel erreichen, bleibt uns nur, den pädagogischen Widerstand gegen die herrschende Systemlogik wach zu halten und Ansätze guter inklusiver Praxis zu stärken, an denen sich Politik orientieren kann.