- Michael Rau unterrichtet Informatik an der Annedore-Leber-Oberschule, einer beruflichen Förderschule in Berlin:
"An meiner Berufsschule lernen ausschließlich Jugendliche mit sonderpädagogischen Bedarfen. Anders als die Oberstufenzentren bilden wir in mehreren Berufsfeldern aus; in Textil- genauso wie in Metall- oder kaufmännischen Berufen. Unsere 1 000 Schülerinnen und Schüler haben körperliche oder geistige Beeinträchtigungen, etwa Hör- oder Sehschwächen, oder auch psychische Erkrankungen oder Lernprobleme. Sie sind so verschieden, dass ich sagen würde: Wir arbeiten sehr inklusiv; dann nämlich, wenn man unter Inklusion nicht einfach die Integration junger Menschen mit Behinderungen in die Welt der Nicht-Behinderten versteht. Leisten können wir das, weil unsere Ausstattung kleine Klassen ermöglicht; und wir, wenn nötig, zu zweit unterrichten können.
Wir, das sind an meiner Schule 65 Lehrkräfte, von denen sieben oder acht eine sonderpädagogische Ausbildung haben. Alle anderen, mich eingeschlossen, haben sich spezielle Kenntnisse angeeignet. Meine Position: Inklusion hängt auch sehr von dem Herangehen ab. Betrachte ich jeden Schüler als Individuum, mit seinen Stärken und Schwächen? Und habe ich die materiellen Voraussetzungen, das zu tun?
Dem Gedanken, unsere Schule in den allgemeinen Betrieb der Oberstufenzentren (OSZ) zu integrieren, stehe ich äußerst skeptisch gegenüber. Immer wieder kommen unsere Schülerinnen und Schüler an einem normalen OSZ nicht zurecht; dort fehlt es an Ansprechpartnern, Zeit, Kompetenzen. Übertrüge man unsere Ausstattung auf alle Berliner Berufsschulen, bräuchte es mehrere hundert Sonderpädagogen, ganz zu schweigen von dem, was man sonst noch benötigt. So haben wir zum Beispiel allein für unsere sehbehinderten Jugendlichen zwei Spezialkameras im Wert von mehreren tausend Euro. So etwas lässt sich kaum in allen Schulen vorhalten - für die Betroffenen sind diese Kameras aber unerlässlich, um etwa an der Tafel mitlesen zu können.
Dass Inklusion wenig kosten darf, dafür gibt es ein aktuelles Beispiel. In der Senatsverwaltung läuft eine Arbeitsgruppe zur Inklusion in der beruflichen Bildung unter der Prämisse, nicht über Ressourcen zu sprechen. Wie aber soll man für Inklusion sein, wenn sich der Arbeitgeber weigert, die Voraussetzungen dafür zu schaffen? Inklusion könnte eine echte Chance sein, unsere Schulen zu verbessern. Bisher wurde sie aber nicht genutzt."
- Ute Schmiedekind arbeitet an der Regelschule J. Dicel in Seebach/Thüringen:
"In Thüringen können Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen seit einigen Jahren wählen, ob ihr Nachwuchs eine Regel- oder eine Förderschule besucht. Als das Gesetz in Kraft trat, kam meine Schulleiterin auf mich zu und sagte: 'Du, wir bekommen ja demnächst Schülerinnen und Schüler mit speziellem Förderbedarf - und da habe ich an dich gedacht.' Also kamen nach den Sommerferien 2013 drei Kinder mit - ganz unterschiedlichen - Problemlagen in meine 5. Klasse. Zeit, mich darauf vorzubereiten, blieb mir nicht. Eine Fortbildung zu besuchen, wäre auch schwierig gewesen: Unsere Schule ist notorisch unterbesetzt; außerdem wird diese nur in Weimar angeboten, das liegt rund 100 Kilometer entfernt.
Für mich bedeutet die neue Zusammensetzung: Um für alle Mädchen und Jungen einen Lernzuwachs zu erreichen, differenziere ich meinen Unterricht noch weiter: Außer Haupt- und Realschülern gab es in unserer Schule schon immer jene, die später gern noch Abitur machen wollten.
Mit der Einführung der Inklusion lernen nicht mehr alle nach dem selben Lehrplan: Manche Schülerinnen und Schüler sind erst auf dem Stand der 7. Klasse, auch wenn sie bereits in der 8. sind. Außerdem haben wir aktuell vier Kinder aus geflüchteten Familien, die kaum Deutsch sprechen. Die Folge: Wenn ich heute eine Englisch-Arbeit austeile, gibt es fünf verschiedene Varianten.
Eine Sonderpädagogin für den gemeinsamen Unterricht haben wir auch, sie ist fünf Stunden in meiner Klasse - zwei in Mathe und drei in Deutsch. Da ich Englisch, Französisch und Ethik als Fächer habe, sehe ich die Kollegin nur in Ausnahmefällen. Enorm hilfreich ist allerdings unser Austausch außerhalb des Unterrichts: Ohne ihre Unterstützung - allein an unserer Schule arbeitet sie in vier Klassen! - könnten wir die völlig neue Situation gar nicht stemmen.
Im Grunde halte ich Inklusion für eine gute Idee. Die Eltern sind froh, dass ihre Kinder eine 'normale' Schule besuchen können; und auch den Schülerinnen und Schülern tut es im Prinzip gut. Im Moment aber ist die Lage alles andere als befriedigend. Es fehlt massiv an Personal, auch an der Ausstattung mangelt es, etwa an Material für den Unterricht in heterogenen Gruppen. Insgesamt muss ich nach 36 Jahren im Schuldienst feststellen: Ich habe viele Reformen erlebt, nicht zuletzt nach dem Ende der DDR. Der inklusive Unterricht aber ist die größte Herausforderung meines beruflichen Lebens."