Zum Inhalt springen

„Verantwortung nicht auf die Schultern der Kinder und Jugendlichen laden“

Der Verein Innocence in Danger hat Forschungsergebnisse zur Versorgung von Mädchen und Jungen, von denen Missbrauchs- oder Sextingabbildungen digital verbreitet wurden, vorgestellt. In der Studie geht es auch um Prävention an Schulen.

Knapp 27 Prozent der 6- bis 9-Jährigen und 69 Prozent der 10- bis 13-Jährigen besitzen ein Smartphone. Laut Branchenverband Bitkom sind 39 Prozent der 6- bis 7-Jährigen, 76 Prozent der 8- bis 9-Jährigen und 94 Prozent der 10- bis 11-Jährigen online. Als am meisten gefährdet gelten 9- bis 15-Jährige: Sie wissen oft nicht genau, wie sie sich schützen können. Einer Befragung der Hochschule Merseburg zufolge leiden 45 Prozent der Mädchen und 14 Prozent der Jungen im Internet unter sexueller Belästigung.

Mit der Analyse zur „Versorgung kindlicher und jugendlicher Opfer von Kinderpornografie in Deutschland“ (2004 - 2007) veröffentlichte Innocence in Danger die weltweit erste Studie dieser Art. Die im Juni 2018 bei der Fachtagung „Das Netz, die Pubertät und der Missbrauch“ in Berlin vorgestellte „Empirische Untersuchung zur Versorgung von Mädchen und Jungen, deren Missbrauchsabbildungen bzw. Sextingabbildungen digital verbreitet werden und notwendige Lehren für gute Prävention an Schulen“ ist die Fortsetzung. Seit 2015 wurden dazu psychosoziale Versorgungsstellen, Schulen und Kultusministerien befragt.

Die GEW sprach mit Innocence-in-Danger-Vorstand Julia von Weiler über das Projekt.

  • Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung?

Julia von Weiler: Wir kommen zu dem Schluss, dass Betroffene in der Fläche ziemlich alleine gelassen werden. Die Mädchen und Jungen, deren intime Bilder ungewollt weiterverbreitet werden, finden nur schwer Zugang zu Hilfe. Das Gros der psychosozialen Versorger fühlt sich nicht in der Lage, mit dem Thema umzugehen. Digitale Medien werden immer noch als etwas „Fremdes“ oder „Neues“ angesehen. Die digitale Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen überfordert viele. Wenn es um die ungewollte Weiterverbreitung intimer Bilder geht, muss noch viel aufgeklärt werden. 

  • In der Studie geht es sowohl um Missbrauch als auch um das so genannte Sexting, das Verschicken intimer Nachrichten und Bilder: Warum wird beides zusammen betrachtet?

Von Weiler: Seit 2007 das iPhone auf den Markt kam, hat sich die digitale Lebenswelt noch einmal rasant entwickelt. Digitale Medien spielen eine immer größere Rolle im Beziehungsleben und in der Sexualität. Sexting, das Versenden intimer Bilder oder Filme, ist eine neue Möglichkeit sexuellen Handelns. Solange dies freiwillig und einvernehmlich geschieht, ist alles wunderbar. Entsteht ein solch intimes Bild aber unter Druck oder wird es ohne Wissen beziehungsweise Einverständnis an Dritte weitergeleitet, erlebt die Person auf dem Bild sexuelle Gewalt. Wir haben dafür extra einen Begriff entwickelt: Sharegewaltigung. Er setzt sich zusammen aus dem englischen „share“ für teilen und Vergewaltigung und soll so den Gewaltaspekt einer solchen Handlung deutlich machen. 

  • Über welche Dimensionen sprechen wir, wenn wir über Missbrauchsdarstellungen reden: Wie viele Kinder und Jugendliche sind davon betroffen?

Von Weiler: Das BKA bestätigt, dass die Mehrzahl der Missbrauchsdarstellungen im familiären Umfeld hergestellt wird. Auch eine internationale Studie aus Kanada, an der wir von Innocence in Danger beteiligt waren, bilanziert, dass weit über die Hälfte der Betroffenen innerhalb der Familie missbraucht worden seien. Wir müssen heute bei jedem Fall sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche die Möglichkeit von Missbrauchsdarstellungen in Betracht ziehen. Die Software Arachnid, ein sogenannter Webcrawler des Canadian Centre for Child Protection, durchsucht das Netz nach polizeibekannten Missbrauchsdarstellungen. Täglich werden damit über 700 „Notice und Take Down“-Mitteilungen verschickt, das sind Amtshilfeersuchen, um dokumentierten sexuellen Missbrauch – der oft und falsch Kinderpornografie genannt wird - online zu beseitigen. Deutschland sollte sich dringend an Arachnid beteiligen.

  • Bei der Tagung ging es auch um digitale Schutzkonzepte: Wie müssen diese aussehen?

Von Weiler: Wir Erwachsene müssen einen Rahmen schaffen, der Schutz herstellt. Dazu gehört, dass wir alle uns viel mehr damit beschäftigen und die digitale Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ernst nehmen. Anbieter von sozialen Netzwerken, Onlinespielen und Messengern müssen dazu verpflichtet werden, digitale Schutzkonzepte für Kinder zu entwickeln und umzusetzen. Bisher sind die immer noch fein raus, während Eltern und Kinder in die Pflicht genommen werden. Auch Politik muss sich dafür endlich stark machen. Psychosoziale Fachkräfte müssen zudem endlich die besondere Psychodynamik der „Zweites-Verbrechen“-Abbildungen bei Opfern verstehen – und die Rolle der Technologie als Treiber, Multiplikator und Profitmodell sexuellen Missbrauchs von Kindern durchschauen.

  • Welchen Beitrag – sowohl zur Prävention als auch zur Versorgung von Betroffenen - können konkret Schulen leisten?

Von Weiler: Wenn wir alle lernen, selbstverständlich über das Thema zu sprechen, erleichtern wir es Betroffenen, sich mitzuteilen. Dabei kann Schule einen wertvollen Beitrag leisten. Wir wissen, dass Lehrkräfte für Betroffene oft wichtige Vertrauenspersonen sind, denen sie sich anvertrauen. Das bedeutet, wir müssen Lehrkräfte befähigen und stärken, mit dem Thema umzugehen. Ich bin immer wieder erstaunt, dass wir so leichtfertig alle Verantwortung auf die Schultern der Kinder und Jugendlichen laden. Sie sind weder emotional noch kognitiv - rein hirnphysiologisch - dazu in der Lage, die komplexen und vor allem zukünftigen Konsequenzen ihres digitalen Handelns zu reflektieren. Viel zu gern verwechseln wir Anwendungskompetenz mit Lebenskompetenz.

Vorstand Julia Weiler / Foto: Innocence in Danger / Jonas Schweitzer-Faust