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Ukraine-Krieg

Ukrainisch für Anfänger

Unter den Hunderttausenden Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, gibt es zahllose pädagogische Fachkräfte, die jetzt für das deutsche Bildungssystem wichtig sind.

Viktoriia Harbuz kam Mitte März nach Deutschland. Die Gymnasiallehrerin für Deutsch und Englisch fand Arbeit an der Universität Leipzig und an einer Schule. (Foto: Sebastian Willnow)

Viktoriia Harbuz hat es erst mal geschafft. Am 14. März kam die Gymnasiallehrerin für Englisch und Deutsch mit ihrer 20-jährigen Tochter aus Kowel im eigenen Auto nach Leipzig. Es war nicht mehr auszuhalten, im Nordosten der Ukraine. Fünfmal am Tag Bombenalarm und Sirenen, der Flugplatz im nahen Lutsk bombardiert, das Gymnasium ein Zufluchtsort für Geflüchtete. Ihren Vater, ihren Mann und ihren erwachsenen Sohn musste sie in der Ukraine zurücklassen – wie alle Frauen. In Leipzig ist sie mit einem Lehrerkollegen befreundet. Im März hat er sie angerufen und gesagt: Komm her!

Dank einiger guter Tipps, Telefonate, Mails und Kontakte mit dem Schulamt ist die 48-jährige Pädagogin heute schon voll engagiert und integriert in Leipzig: Sie hat einen Honorarvertrag an der Universität für zwei Seminare: Ukrainisch für Anfänger und Ukrainisch für ehrenamtlich helfende Studierende, sechs Stunden pro Woche. Und sie unterrichtet an der freien Rahn-Schule mehrere aus der Ukraine geflüchtete Kinder der 5. und 6. Klasse in Deutsch und Englisch – zwölf Stunden in der Woche. Sie ist ausgestattet mit einem Laptop der Schule und kann mit den beiden Einkommen die Wohnung bezahlen, in die sie gerade gezogen ist. Ihre Tochter kann weiter Medizin studieren, online an ihrer Universität in Dnipro.

Vorreiter für unbürokratische Aufnahme

Harbuz ist eine Frau, die sich rasch um ihre Dinge kümmert, sie hatte sicher ein wenig Glück, vor allem aber hatte sie die richtigen Papiere dabei: ihr Diplom mit Bestnoten, ihr B2-Deutschzertifikat vom Goethe-Institut und ein amtliches Büchlein mit ihren Arbeitsnachweisen seit 1995. Nur eine offizielle Übersetzung der Dokumente muss sie nun noch nachreichen. Und sie traf in Sachsen auf offene Ohren. Der Freistaat ist bundesweit ein Vorreiter für die unbürokratische Aufnahme ukrainischer Lehrkräfte. Das Land schließt einfache Arbeitsverträge nach bürgerlichem Recht ab, ohne lange Überprüfungen und Hürden – und angelehnt an den Tarifvertrag.

Wenn Unterlagen wie Abschluss- und Führungszeugnisse, Qualifizierungs- oder Impfnachweise fehlen, dürfen schriftliche Glaubhaftmachungen vorgelegt und Unterlagen nachgereicht werden. Auch das erforderliche Sprachniveau wurde von C1 auf B2 abgesenkt – die nötigen Deutschkenntnisse dürfen im Nachhinein erworben werden. „Voraussetzungen für diese sehr kurzfristige Einstellungspraxis“, betont Ministeriumssprecher Dirk Reelfs, „waren die schnellen Einigungen mit dem Lehrerhauptpersonalrat.“

Bis Mitte Mai wurden auf diesem Weg in Sachsen bereits mehr als 270 pädagogische Fachkräfte mit ukrainischen Sprachkenntnissen angestellt, um den bis dahin rund 5.500 geflüchteten Kindern an den Schulen des Landes den Einstieg so einfach wie möglich zu machen. Gesucht werden vor allem Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache und Schulassistenten für die Integration in den Regelunterricht. Insgesamt sollen bis zu 400 Vollzeitstellen besetzt werden – und zwar bis zum Ende des Schuljahres 2023. Eingestellt werden dabei auch Lehrkräfte, die beurlaubt oder altersbedingt aus dem Schuldienst ausgeschieden sind, Absolventinnen und Absolventen von Lehramtsstudiengängen sowie andere Bewerberinnen und Bewerber mit pädagogischem Abschluss.

Vereinfachte Anerkennung

Für Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule, ist Sachsen neben Hamburg und Berlin ein Beispiel dafür, wie es bei der Übernahme ukrainischer Lehrkräfte in den Schul- und Wissenschaftsbetrieb gehen kann. „Wir brauchen eine vereinfachte Anerkennung der Abschlüsse und Qualifikationen, denn wir brauchen die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen in den Schulen jetzt“, sagt Bensinger-Stolze. Der ohnehin weit verbreitete Lehrkräftemangel werde durch die Aufnahme der geflüchteten Kinder noch verstärkt – und die Kollegien zusätzlich belastet. „In der aktuellen Situation sind die Verfahren zur Integration in den Schuldienst in den meisten Bundesländern zu bürokratisch und die Anforderungen an Deutsch-Zertifikate zu hoch“, sagt Bensinger-Stolze.

„Die neuen Kolleginnen und Kollegen dürfen keine Lehrkräfte zweiter Klasse werden.“ (Anja Bensinger-Stolze)

Es sei auch wenig sinnvoll, jemanden mit 20 Jahren Berufserfahrung wegen des Fehlens eines Referendariats oder Vorbereitungsdienstes abzulehnen. Fehlende Qualifikationen wie ein zweites Fach oder nicht ausreichende Deutschkenntnisse könnten parallel zur Schultätigkeit nachgeholt werden. „Wir müssen von einer längeren Dauer des Krieges und einem längeren Aufenthalt der Geflüchteten in Deutschland ausgehen“, sagt das GEW-Vorstandsmitglied.

Auch zielgruppengerechte Anpassungslehrgänge wie für Menschen aus den Staaten der Europäischen Union und ein Patensystem seien sinnvoll und wichtig. Außerdem müssten gleichwertig ausgebildete Lehrkräfte am Ende auch gleichwertig bezahlt werden. „Die neuen Kolleginnen und Kollegen“, sagt Bensinger-Stolze, „dürfen keine Lehrkräfte zweiter Klasse werden.“

Qualifizierung und Mentoring

Auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) rät zu einer schulbegleitenden Qualifizierung und zu Mentoring-Angeboten für ukrainische Fachkräfte: Sie sollten in Angebote zur Bewältigung psychischer Belastungen und in unterrichtsergänzende Bildungsangebote eingebunden werden. Eine Stellungnahme der SWK rät zu klaren -Perspektiven für eine Lehrtätigkeit durch Programme, die die deutsche Sprache auf C2-Niveau und eine Nachqualifizierung auf Grundlage der KMK-Bildungsstandards umfassen. „Hier können die Modelle der Qualifizierung syrischer Lehrkräfte adaptiert werden“, heißt es in dem Papier.

Situation in Kitas und an Hochschulen

Vergleichbar ist die Lage auch an den Kitas. „Natürlich müssen Erzieherinnen und Erzieher aus der Ukraine in einer Kita Deutsch sprechen können, und einige von ihnen bringen ja gute Deutschkompetenzen mit“, sagt Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit. „Aber formelle Zertifikate können sie nachholen. Solche Hürden müssen schnell abgebaut werden.“ Viele Kolleginnen und Kollegen in Erzieherberufen aus der Ukraine würden sogar akademische Abschlüsse mitbringen. „Wir dürfen sie nicht als Hilfskräfte bezahlen.“

Eine bittere Lehre aus der Zeit der großen Fluchtbewegung von 2015 sei, dass dringend benötigte, gut ausgebildete Fachkräfte in Bereiche wie Gastronomie, Hotellerie und Logistik abwandern, weil die Einstiegshürden im Bildungssystem zu hoch und langwierig sind. „Das darf uns nicht noch einmal passieren“, sagt Siebernik. „Wir bauen darauf, dass das System aus Fehlern lernt und schnelle Anerkennungsverfahren für Menschen aus diesem Berufsfeld einführt – viele Einrichtungen haben immensen Personalbedarf.“

„Wir brauchen einen Pool von Stellen, die die Hochschulen abrufen können.“ (Andreas Keller)

An den Hochschulen ist die Ausgangslage indessen eine andere: Die Ukraine ist dem Bologna-Prozess zur internationalen Vergleichbarkeit von Studiengängen und Abschlüssen ebenso beigetreten wie der Lissabon-Konvention zur Anerkennung der Hochschulqualifikationen. Diese Schritte haben zur Internationalisierung ukrainischer Studierender beigetragen und müssten eigentlich eine schnelle Integration ermöglichen. „In der Praxis läuft es aber nicht so reibungslos“, sagt Andreas Keller, GEW-Vorstandsmitglied Hochschule und Forschung. „Die aktuelle Situation wird nun zur Bewährungsprobe für die Umsetzung der Beschlüsse.“

Da die Team- und Verkehrssprache in der Forschung häufig Englisch ist, dürften auch keine zu strengen Anforderungen an das deutsche Sprachniveau der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angelegt werden. Keller: „Wichtiger sind Willkommensangebote für die Integration und den Spracherwerb.“

Ebenso nötig sei ein Sonderprogramm des Bundes für Promovierende und Postdocs. „Wir brauchen einen Pool von Stellen, die die Hochschulen abrufen können“, sagt Keller. Zwar gebe es schon Unterstützungsangebote von Institutionen wie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Aber diese reichten nicht aus. „Die Wissenschaftslandschaft braucht unbürokratische Lösungen“, sagt Keller. „Die Hochschulen sind grundsätzlich gutwillig.“ Die Universität Leipzig hat dies bei Lehrerin Harbuz schon gezeigt.