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Recht auf Ganztag

Konservative auf dem Rückzug

Ab Sommer 2026 haben neu eingeschulte Grundschülerinnen und -schüler einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Für eine gute Umsetzung braucht es eine Qualitätsoffensive und Zehntau-sende zusätzliche Fachkräfte.

Der Streit zwischen Bund und Ländern um den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz wurde erst in allerletzter Minute beigelegt. (Foto: IMAGO/McPHOTO)

Gerungen wurde zwischen Bund und Ländern wie so oft ums Geld. Erst Anfang September, am späten Abend vor dem letzten Sitzungstag des Parlaments in der auslaufenden Wahlperiode, hat der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat eine Einigung über den künftigen Rechtsanspruch auf eine bis zu achtstündige Ganztagsbetreuung für alle Grundschülerinnen und -schüler erzielt. Das Vorhaben war vier Jahre zuvor im Koalitionsvertrag von Union und SPD angekündigt worden.

Dabei hatten auch die meisten Länder-Regierungschefs von Union und SPD den Vertrag mit den geplanten politischen Projekten der Großen Koalition mitunterzeichnet. Doch als das Gesetz schließlich den Bundesrat passieren sollte, legte die Mehrheit der Länder Veto ein – allen voran das grün-schwarz regierte Baden-Württemberg, das rot-schwarz regierte Niedersachsen und das schwarz-grün regierte Hessen. Sie wollten für den Ausbau und auch für die künftigen Personalkosten der Ganztagseinrichtungen mehr Geld vom Bund erzwingen. Dabei hätten diese Länder auch ein völliges Scheitern der Gesetzesinitiative billigend in Kauf genommen. Denn nach dem Diskontinuitätsprinzip verfällt ein Gesetz, das nicht bis zum Abschluss der Legislaturperiode rechtskräftig verabschiedet wurde.

Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung gilt künftig für alle Kinder, die ab dem Schuljahr 2026/2027 neu eingeschult werden. Nach dem Kompromiss übernimmt der Bund bis zu 70 Prozent der Investitionen „zum quantitativen oder qualitativen Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote“ – vorerst bis zu einer Gesamtsumme von 3,5 Milliarden Euro. Zunächst waren nur 50 Prozent Bundesanteil vorgesehen. Schätzungen gehen davon aus, dass bundesweit derzeit rund 600.000 Betreuungsplätze für Grundschulkinder fehlen, vor allem in den westlichen Flächenländern – während es im Osten und in den Stadtstaaten Berlin und Hamburg bereits heute ein breites Betreuungsangebot gibt.

Fachkräfte fehlen

Gefördert werden laut Gesetz Neubau, Umbau, Erweiterung, Ausstattung und Sanierung für eine „zeitgemäße Ganztagsbetreuung“. Die Investitionen sollen „trägerneutral“ gezahlt werden. Nicht gefördert werden hingegen Investitionen, die allein dem Erhalt der Bausubstanz bestehender Einrichtungen dienen.

Ursprünglich wollte sich der Bund mit jährlich einer Milliarde Euro auch an den laufenden Personalkosten beteiligen. Nach dem Kompromiss werden es künftig 1,3 Milliarden jährlich sein. Ende 2027 soll das Gesetz evaluiert werden, um eventuelle Mehr- oder Minderbelastungen der Länder auszugleichen.

„Zeigt sich, dass die eingeplanten Gelder nicht ausreichen, muss nachgesteuert werden.“ (Maike Finnern)

Doch für die tatsächliche Erfüllung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung fehlen nach Aussage des Deutschen Städtetages in den kommenden Jahren Zehntausende pädagogische Fachkräfte. Die GEW fordert Bund und Länder zu einer Qualitätsoffensive auf. Geklärt sei zudem nicht, woher die Fachkräfte für den Ganztag kommen sollen. Allein 50.000 zusätzliche Lehrkräfte werden gebraucht. „Ganztag ist eine Bildungsaufgabe. Die Kinder lediglich zu betreuen, damit die Eltern arbeiten gehen können, wird weder den Bedürfnissen der Mädchen und Jungen gerecht noch kann sich so die Idee des ganztägigen Lernens entfalten“, kritisiert die GEW-Vorsitzende Maike Finnern.

Insbesondere Kinder aus benachteiligten Haushalten benötigten qualitativ hochwertige Ganztagsschulangebote, damit Nachteile ausgeglichen und Chancengleichheit erreicht werden können. Finnern: „Zeigt sich, dass die eingeplanten Gelder nicht ausreichen, muss nachgesteuert werden.“ Qualität bedeute für die GEW, dass im Ganztag ausgebildete Fachkräfte in multiprofessionellen Teams zusammenarbeiten, also Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen. „Das Lernen in der Grundschule hat sich längst verändert. Kinder lernen den ganzen Tag auf unterschiedliche Weise und jedes Kind in seinem eigenen Tempo“, betont Finnern. Dieses Lernen und Leben in den Ganztagsgrundschulen könnten multiprofessionelle Teams am besten gemeinsam gestalten.

Wieder einmal war es der Bund, der hier den Anstoß für ein wichtiges Bildungsreformprojekt gegeben hat und zugleich den Ländern – wie auch bei der Digitalisierung der Schulen – mit vielen Milliarden unter die Arme greift. Gleichwohl pochen die Länder darauf, dass Schulpolitik allein ihre originäre Aufgabe sei – und der Bund inhaltlich nicht mitzureden habe. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hält gar das Bundesbildungsministerium für völlig überflüssig, wie er unlängst betonte. Zusammen mit seinem bayerischen Amtskollegen Markus Söder (CSU) torpedierte Kretschmann auch das Vorhaben der Großen Koalition eines gemeinsamen Bildungsrates von Bund und Ländern mit unabhängigen Experten. Geld vom Bund hingegen nehmen die Länder für ihre Schulpolitik gern an.

Große Nachfrage

Dabei hat sich in Sachen Ganztag in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem bei konservativen Unionspolitikern ein gewaltiger Wandel vollzogen. Der damalige hessische Regierungschef Roland Koch (CDU) versuchte 2002 vergeblich, das erste Ganztagsschulprogramm der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) aus ideologischen Gründen zu verhindern, weil er Ganztagsbetreuung nicht im Einklang mit dem traditionellen Familienbild seiner Partei sah. Die damalige baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) bezeichnete die vier Milliarden Euro umfassende Startoffensive des Bundes für mehr Ganztagsschulen als „Programm zum Ausbau von Suppenküchen“.

Doch das Bundesprogramm zeigte Wirkung: Mit Hilfe des Geldes aus Berlin wurden zwischen 2003 und 2009 jährlich rund 175.000 neue Ganztagsplätze geschaffen. Seit Auslaufen der Bundeshilfe geht der Ausbau in den Ländern viel langsamer voran. Derzeit geht fast jeder dritte Schüler ganztags zur Schule. Die Nachfrage ist allerdings deutlich größer: Laut Umfragen wünschen sich 70 Prozent aller Eltern einen Ganztagsplatz für ihr Kind.