Zum Inhalt springen

Nordirak

Eine Schule für geflüchtete Jesiden

Im UN-Camp in Khanke (Nord-Irak) leben rund 14.000 jesidische Menschen. Ein deutscher Verein betreibt hier eine Bildungseinrichtung, deren pädagogische Arbeit von der Uni Tübingen erforscht wird. Ein Besuch.

Warum keine Tische im Klassenzimmer stehen? „Das ist unser Speaking Room“, antwortet Michael Erk, Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Schulträgervereins Our Bridge. Hier gehe es allein darum, auf Englisch zu kommunizieren, kurze Dialoge zu führen oder mal ein Video auf Englisch anzuschauen. „Für Reading and Writing in Englisch haben wir ein eigenes Schulfach, einen eigenen Raum“, erklärt der 32-Jährige. Erk ist Jeside, aufgewachsen in Wesel am Niederrhein.

Bei der Gestaltung des Unterrichts geht Our Bridge gern eigene Wege. Neben Kurdisch, Englisch und Mathematik steht auch Yoga auf dem Lehrplan. Täglich gibt es eine kostenlose warme Mahlzeit, die in der Schulküche zubereitet wird. „Bulgur mit Salat“ steht für den kommenden Tag auf dem Speiseplan. Die Klassen sind klein, 18 bis 20 Schülerinnen und Schüler sitzen im Raum. Das Schulgebäude ist ein Flachbau mit gelber Fassade. Davor ein Schulhof mit Basketballkörben und Klettergerüsten. Der Unterricht, täglich drei Stunden, läuft schichtweise. Morgens kommen die ersten 200 Mädchen und Jungen, nachmittags die anderen 200.

Viele Väter vom Islamischen Staat ermordet

Wir treffen die zehnjährige Schülerin Nazdar im UN-Camp. Ihr Zuhause: Ein Verschlag aus Hohlblocksteinen, ohne Fenster, als Dach dient eine Zeltplane. Hier lebt Nazdar mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern. Die Besucher sitzen auf braunen Matratzen. Nazdars Mutter serviert Tee. Sie erzählt von 2014, als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) jesidische Dörfer überfiel. Tausende flohen in die Berge. Viele Männer wurden ermordet. Auch Nazdars Vater ist bis heute verschollen. Ob er noch lebt? „Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben“, sagt Nazdars Mutter.

Computerunterricht: Salam, der 29-jährige Lehrer, vermittelt Grundkenntnisse. Welche Funktionen sind auf welcher Taste hinterlegt? Was bedeutet der Befehl „delete“? Nazdar weiß, dass Computerkenntnisse später im Beruf wichtig sind. „Computer werden vom Arzt genutzt. Und im Büro. Und bei der Polizei“, sagt sie.

Schulbegleitender Unterricht

Our Bridge hat keine staatliche Anerkennung und führt deshalb nicht zu offiziellen Schulabschlüssen. Man unterrichte „schulbegleitend“, erklärt Erk. „Kinder, die vormittags bei uns sind, gehen nachmittags auf die staatliche Schule im UN-Camp.“ Und wer nachmittags zu Our Bridge gehe, habe am Vormittag die staatliche Schule besucht. Erk weiß von vier Schulstandorten im Camp. Dort herrschten schlechte Bedingungen. Der Unterricht finde in Containern statt, in denen sich jeweils 40 bis 50 Schülerinnen und Schüler drängelten. „Die haben im Winter keine Möglichkeit zu heizen“, berichtet Erk. Und im Sommer sei es 45 Grad heiß. Die Kinder hätten daher große Probleme, „den Stoff aufzunehmen“. Wer zusätzlich Our Bridge besuche, verhalte sich disziplinierter und erziele beim Schulabschluss bessere Noten. Das registriere auch die Schule im Camp. „Der Schulleiter dort befürwortet unser Projekt“, erklärt Erk.

Der Verein Our Bridge entstand 2014, nach den Massa-kern des IS an den Jesiden. Den Anstoß gab Paruar Bako, damals 19 Jahre alt, Jeside aus Oldenburg (Niedersachsen). Bako wollte in Khanke jenen Kindern helfen, deren Eltern der IS ermordet hatte. Für das Projekt fand er viele Unterstützer. Etwa den Rap-Musiker Xatar, ein Kurde aus dem Iran, in Deutschland bekannt durch den Kinofilm „Rheingold“. Zu den Sponsoren gehören ferner ein Unternehmer aus Regensburg, eine evangelische Kirchengemeinde und eine indische Wohlfahrtsorganisation.

„Wir schauen uns das Curriculum der staatlichen Schule an. Außerdem recherchieren wir zu Lehrplänen des deutschen Schulsystems.“ (Paruar Bako)

Bako betont, dass Our Bridge großen Wert auf Kooperation mit den Lehrerinnen und Lehrern lege. „Wir wollen, dass es den Kindern gut geht. Und deshalb müssen wir den Lehrkräften Raum geben, um sich zu entfalten.“ Auch die Lehrpläne entstünden in Zusammenarbeit mit dem Kollegium. „Wir schauen uns das Curriculum der staatlichen Schule an“, sagt Erk. „Außerdem recherchieren wir zu Lehrplänen des deutschen Schulsystems.“ Anschließend organisiere Our Bridge Workshops – „und dann arbeiten wir unser eigenes Curriculum aus“. Inzwischen gebe es Kontakte zum Bildungsministerium der Autonomen Region Kurdistan im Nord-Irak. Die US-amerikanische Universität in der nahen Großstadt Duhok habe signalisiert, „dass sie uns bei den Bildungsinhalten für Englisch unterstützen möchte“

Auch Lehrkräfte sind geflüchtete Jesiden

Montagvormittag: Lehrerin Alia nimmt den Filzstift in die Hand und teilt die Tafelfläche in zwei Hälften. Zwei Schüler gehen nach vorn. Alia nennt einen arabischen Buchstaben – und wer ihn als erster fehlerfrei an die Tafel geschrieben hat, ist Sieger. Die nächsten beiden sind an der Reihe. Es geht Schlag auf Schlag – Nazdar und der Großteil der Klasse sind mit Feuereifer dabei. Nur einige Jungen albern herum.

Große Pause: Mädchen flanieren über den Schulhof, Arm in Arm mit einer Lehrerin. Auch etliche Jungen suchen die Nähe zu einer Lehrkraft. Wer bei Our Bridge unterrichtet, kennt die Lebensbedingungen der Kinder und weiß, was die Eltern erlitten haben. Denn auch die Lehrerinnen und Lehrer leben im Camp, sind geflüchtete Jesiden. „Ich musste mich acht Tage in den Bergen verstecken“, erzählt Salam, der Computer-Lehrer. „Kein Wasser, kein Essen. Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Menschen starben.“

„Dort fragt man nicht, ob das Kind hier richtig ist. Sondern es ist da. Und dann freut man sich.“ (Thorsten Bohl)

„Das sind sensibilisierte Lehrkräfte“, urteilt Thorsten Bohl, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen. „Die wissen, dass einige Kinder morgens nichts zu essen bekommen. Dass manche auch umkippen.“ Bohl, der auch die Jury des Deutschen Schulpreises leitet, reiste mit einem Team im vergangenen Jahr nach Khanke, um das Schulprojekt von Our Bridge zu erforschen. Er lobt die dort praktizierte Pädagogik. „Da wird keiner runtergemacht, wenn er etwas nicht kann. Das ist alles positiv, wertschätzend, lobend ausgerichtet.“ Auch Schülerinnen und Schüler mit körperlicher oder geistiger Einschränkung hätten ihren Platz. „Dort fragt man nicht, ob das Kind hier richtig ist. Sondern es ist da. Und dann freut man sich“, fasst Bohl zusammen.

Projekte wie die von Our Bridge könnten eine Chance sein.

Laut UNO gibt es im Nord-Irak 26 Camps für Geflüchtete. Zehntausende Menschen leben hier, viele seit Jahren. Es sind zumeist Jesiden, aber auch Geflüchtete aus Syrien. Weltweit harren 45 Millionen Menschen, die jünger als 18 Jahre sind, in Geflüchtetenlagern aus. Professor Bohl ging auch der Frage nach: Ist Our Bridge ein Modell, wie Bildung in diesen Camps aussehen kann? Der Tübinger Hochschullehrer sieht „Instabilitäten“. So arbeite Our Bridge auf der Basis von Spendengeldern. 30.000 Euro kostet laut Bohl der Schulbetrieb pro Monat. Dieses Geld aufzutreiben, sei nur mit viel Logistik und Engagement möglich.

Auch werde wichtige Arbeit ehrenamtlich geleistet, hänge an wenigen Personen. „Die können ja mal krank werden.“ Der Professor betont jedoch, dass Our Bridge wertvolle Erfahrungen und Erkenntnisse gesammelt habe. „Es gibt ja in allen Camps viele Lehrkräfte, die total gierig darauf sind zu unterrichten. Die haben keinen Job.“ Bohl schwebt ein Konsortium aus schlagkräftigen Akteuren vor, das professionelle, gut bezahlte Schulleitungen aufbaut. Und dann Lehrkräfte aus den Camps holt. „Das könnte eine echte Chance sein.“