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Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)

„Die Welt retten wir nicht an der Supermarktkasse“

In einem Beitrag* für die GEW-Zeitschrift „DDS – Die Deutsche Schule“ haben die Erziehungswissenschaftlerin Mandy Singer-Brodowski und ihr Kollege Helge Kminek beschrieben, wie BNE im deutschen Schulsystem verankert ist.

Mandy Singer-Brodowski, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin (Foto: Wuppertal Institut)

Im E&W-Interview erläutert Singer-Brodowski die Ergebnisse.

  • E&W: Beim Thema BNE spielen die Schulen eine wichtige Rolle. Wie gut ist BNE im Jahr 2023 im deutschen Schulsystem verankert?

Mandy Singer-Brodowski: Die Vorreiterrolle bei diesem Thema hatten außerschulische Bildungseinrichtungen und zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Schulen haben nach und nach darauf reagiert. Unsere Studien des Monitorings zu BNE zeigen, dass BNE auf der formalen Ebene, also zum Beispiel in den Lehrplänen, langsam ankommt. Allerdings ist die Varianz sehr groß, das heißt, es gibt einzelne Hotspots, aber keine flächendeckend gute Implementierung der BNE im Schulsystem. Aufgrund des Lehrkräftemangels fällt es vielen Schulen zudem schwer, BNE als fächerübergreifendes Bildungskonzept zu stärken, das zusätzlich auch etwa die Umgestaltung des Schulgebäudes oder die Partizipation der Schülerinnen und Schüler umfasst. Außerschulischen Einrichtungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren kommt daher eine große Bedeutung bei der Implementierung der BNE im Schulsystem zu. Sie bringen Expertise mit und können Lehrkräfte entlasten.

  • E&W: Wo sehen Sie die größten Probleme?

Singer-Brodowski: Hauptsächlich darin, dass BNE oft nur als Zusatzthema aufgegriffen und nicht als fächerverbindendes, umfassendes Konzept eines ganz neu zu organisierenden Lernens in allen Bereichen verstanden wird.

  • E&W: In welchen Schulfächern ist BNE besonders präsent?

Singer-Brodowski: Die klassischen Fächer für BNE sind Geografie, Biologie oder der Sachunterricht in den Grundschulen. Das Problem ist, dass diese Fächer am gesamten Fächerkanon nur einen relativ geringen Anteil haben. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte wünschen sich jedoch eine Verdreifachung der Zeit für nachhaltigkeitsrelevante Inhalte in den Bildungseinrichtungen.

  • E&W: Gibt es hinsichtlich der Implementierung des Themas BNE in den Schulunterricht Unterschiede zwischen den Bundesländern?

Singer-Brodowski: Ja, in einzelnen Bundesländern wurde BNE durchaus fächerübergreifend eingeführt, und damit waren die Fächer aufgefordert, ihre eigenen Bezüge zu Fragen der Nachhaltigkeit herauszuarbeiten. Sehr ambitioniert ist in dieser Hinsicht Baden-Württemberg. Auch Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen folgen dem Anspruch, BNE in vielen Fächern zum Thema zu machen.

  • E&W: Welche Konzepte bei der Umsetzung des Ziels, das Thema Nachhaltigkeit im Schulunterricht zu implementieren, gibt es und wie sind diese Ihrer Ansicht nach zu bewerten?

Singer-Brodowski: Vereinfacht gesagt werden in der Literatur zwei unterschiedliche Ansätze diskutiert. Der erste verfolgt das Ziel, Kinder und Jugendliche zu bestimmten Handlungsweisen zu motivieren – das könnte eher als Erziehung für nachhaltige Entwicklung beschrieben werden. Der zweite orientiert sich am mündigen Subjekt und fordert zum kritischen, reflektierten Denken auf und ist damit im eigentlichen Sinne Bildung. Bei BNE muss es meiner Ansicht nach darum gehen, die Lernenden dazu zu befähigen, eigene Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln und sich politisch zusammen mit anderen an gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu beteiligen. Die großen Probleme wie Klimawandel, Armut, Ressourcenverbrauch oder die nachhaltige Digitalisierung können nicht isoliert voneinander betrachtet werden. BNE sollte auch nicht auf die Erziehung zu nachhaltigem Konsum und Lebensstil reduziert werden.

  • E&W: Man sollte also das große Ganze im Blick behalten?

Singer-Brodowski: Ja. Überspitzt formuliert: Die Welt retten wir nicht alleine und auch nicht an der Supermarktkasse. Natürlich reduziert es konkret CO2-Emissionen, wenn ich mich fleischfrei ernähre, Flugreisen vermeide und Bahn statt Auto fahre. Und wenn Schülerinnen und Schüler nach der Schule mit den Eltern über solche Fragen diskutieren und die Familie sich entscheidet, klimaschädlichen Konsum einzuschränken, ist das nicht falsch. Solange aber die strukturellen Bedingungen so sind, dass das Fleisch aus Massentierhaltung subventioniert wird und das Fahren mit dem eigenen PKW für manche die finanziell günstigste und für manch andere die einzig mögliche Alternative ist, müssen wir die Ernährungs- und Verkehrswende auch im Unterricht struktureller und politischer diskutieren.

  • E&W: Wie gut werden Lehrerinnen und Lehrer in der Aus- und Weiterbildung auf das Thema BNE vorbereitet?

Singer-Brodowski: Das ist in der Tat die Achillesferse. Die formalen Anforderungen in den Lehrplänen sind mit Blick auf BNE in den vergangenen Jahren in allen Bundesländern gestiegen. Die Lehrkräfte werden -darauf aber nur unzureichend vorbereitet. Es gibt einige Universitäten, in denen das Thema in der Ausbildung eine Rolle spielt, aber in der Fläche gibt es hohen Nachholbedarf. In einer Untersuchung der FU Berlin gaben über 86 Prozent der Lehrkräfte an, dass ihnen BNE in ihrem Studium nie oder nur selten begegnet sei. Die Weiterbildung ist da etwas dynamischer. Aber hier fehlt vielen Pädagoginnen und Pädagogen die Zeit, die Weiterbildungsangebote auch wahrzunehmen. 

*„Zu den Zielen von Bildung für nachhaltige Entwicklung und dem Stand der Implementierung im deutschen Schulsystem“, DDS – Die Deutsche Schule, Heft 2/2023