Zum Inhalt springen

Schluss mit Hire and Fire

Acht Forderungen für ein Wissenschaftsentfristungsgesetz

Kurze Zeitverträge sind in der Wissenschaft zum Normalfall geworden. Daran hat auch die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes von 2016 nichts geändert. Mit einem Acht-Punkte-Programm prescht die GEW nun erneut vor.

Nachdem die Evaluation der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) gezeigt hat, dass in Hochschulen und Forschung weiter Zeitverträge dominieren, fordert die GEW ein „Wissenschaftsentfristungsgesetz“. Dazu legte die Gewerkschaft ein Acht-Punkte-Programm vor. „Der Gesetzgeber hat jetzt die Aufgabe, der Arbeitgeberwillkür Grenzen zu setzen“, sagte GEW-Hochschulexperte Andreas Keller bei der Konferenz „Schluss mit Hire and Fire – das Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf dem Prüfstand“ am Freitag in Berlin.

Mit verschiedenen Kampagnen und Slogans – vom Templiner Manifest über den Traumjob Wissenschaft bis zu Frist ist Frust – fordert die Gewerkschaft seit Jahren Dauerstellen für Daueraufgaben sowie mehr unbefristete Verträge für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – und damit verbunden eine erneute Reform des WissZeitVG.

„Die wesentlichen Ziele der Novelle wurden verfehlt.“ (Andreas Keller)

Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beauftragte und am 20. Mai veröffentlichte Evaluationsbericht des HIS-Institutes für Hochschulentwicklung (HIS-HE), den Georg Jongmanns bei der Konferenz erläuterte, stärkt der GEW den Rücken. Das Institut bilanziert darin: „Die Evaluation hat eine positive, jedoch noch keine nachhaltige Veränderung der Vertragslaufzeiten festgestellt.“ Die GEW geht noch einen Schritt weiter: „Die wesentlichen Ziele der Novelle wurden verfehlt“, sagte Keller.

  • Im Jahr 2015 betrug die mittlere Laufzeit an den Universitäten rund 15 Monate (nicht promovierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler) bzw. 17 Monate (Promovierte); im Jahr 2017 erreichte sie 21 bis 22 Monate. Ein wichtiger Faktor der positiven Entwicklung war die Zunahme von Arbeitsverträgen mit einer dreijährigen Laufzeit.
  • Nach dem Höchstwert im Jahr 2017 pendelten sich die Laufzeiten in den Jahren 2018 und 2019 auf einem Niveau von rund 20 Monaten ein, im Pandemie-Jahr 2020 sank der Wert um 2,7 Monate.
  • Der Anteil der Kurzbefristungen konnte nach der Gesetzesnovelle reduziert werden. Es bleibt jedoch ein persistenter Sockel. Lässt man das Pandemie-Jahr 2020 außer Acht, hat an den Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) ungefähr ein Drittel der in einem Kalenderjahr abgeschlossenen Arbeitsverträge eine Laufzeit von weniger als zwölf Monaten; bei den außeruniversitären Forschungseinrichtungen (AuF) und im Bereich der Humanmedizin ist es ein Viertel der befristeten Arbeitsverträge.
  • Unabhängig von der Einrichtung sind die Beschäftigten nicht im gleichen Ausmaß von den Kurzbefristungen betroffen. Während ungefähr 50 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im laufenden Beschäftigungsverhältnis noch keinen kurz laufenden Vertrag unterschrieben haben, häuft sich bei 10 Prozent von ihnen die Hälfte der Kurzbefristungen an (einschließlich der Verträge mit einer einjährigen Laufzeit).
  • Bei einer Onlinebefragung von rund 6.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern schätzen die Beschäftigten auch die Angemessenheit der Vertragslaufzeiten ein. Rund 40 Prozent der Befragten halten es für realistisch, die angestrebte Qualifizierung während der Laufzeit des aktuellen Vertrags zu erreichen, rund 50 Prozent halten sie für zu kurz bemessen. 

Positionspapier der GEW

Die Ampelkoalition stellte bereits eine Reform des Gesetzes in Aussicht. Mit ihrem Positionspapier will die GEW der Debatte Fahrt verleihen und nennt folgende acht Punkte als Eckpfeiler für ein Wissenschaftsentfristungsgesetz:

1. eine Engführung des Qualifizierungsbegriffs

2. die Verankerung von Mindestlaufzeiten für die Qualifizierungsbefristung

3. der Ausschluss einer Befristung nach der Promotion ohne Dauerperspektive

4. eine klare Abgrenzung des personellen Geltungsbereichs

5. die Trennung von Projektbefristung, Qualifizierungsbefristung und Daueraufgaben

6. eine verbindliche Ausgestaltung der Verlängerungsoptionen zum Nachteilsausgleich

7. die Aufhebung der Höchstbefristungsdauer für studentische Beschäftigte

8. die ersatzlose Streichung der Tarifsperre

  1. Die GEW fordert eine Begrenzung der Qualifizierungsziele von nicht-promoviertem wissenschaftlichen und künstlerischen Personal auf die Promotion, an den Musik- und Kunsthochschulen auch auf äquivalente Qualifizierungen, sowie von promoviertem wissenschaftlichen und künstlerischen Personal auf die Habilitation oder eine gleichwertige Qualifizierung für eine Professur bzw. eine andere verantwortungsvolle Tätigkeit in Forschung und Lehre. 
  2. Die GEW fordert die Orientierung der Laufzeiten für befristete Qualifizierungsverträge an der Höchstbefristungsdauer von sechs Jahren (Regellaufzeit) und die Festlegung einer Mindestvertragsdauer von vier Jahren (Untergrenze). 
  3. Die GEW fordert die gesetzliche Verankerung von Dauerstellen für Daueraufgaben in Lehre, Forschung und Wissenschaftsmanagement. Eine Befristung von Arbeitsverträgen mit promoviertem wissenschaftlichen Personal ist nur dann gerechtfertigt, wenn diesem zugleich eine verbindliche und berechenbare Dauerperspektive eröffnet wird: über einen Tenure Track oder eine Anschlusszusage, die zu einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis führen, wenn die vereinbarten wissenschaftlichen Qualifizierungsziele erreicht werden. 
  4. Die GEW fordert, alle wissenschaftlich Beschäftigten, die überwiegend Lehraufgaben oder Aufgaben im Wissenschaftsmanagement oder in der Wissenschaftsverwaltung übernehmen, aus dem Geltungsbereich eines neuen Wissenschaftsentfristungsgesetzes auszuschließen und für diese Personengruppe explizit die unbefristete Beschäftigung gesetzlich zu verankern, sofern keine Sachgründe für eine Befristung nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz vorliegen.
  5. Die GEW fordert eine Reform des Befristungsrechts in der Wissenschaft, die sicherstellt, dass mit Drittmitteln finanzierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur dann befristet beschäftigt werden, wenn sie keine Daueraufgaben erfüllen. 
  6. Die GEW fordert die gesetzliche Verankerung eines Rechtsanspruchs auf Verlängerung von zur Qualifizierung befristeten Beschäftigungsverhältnissen um mindestens zwei Jahre bei Betreuung von Kindern (familienpolitische Komponente), um zwei Jahre bei Vorliegen einer Behinderung oder chronischen Erkrankung sowie um mindestens ein Jahr für alle, die pandemiebedingte Beeinträchtigungen und Verzögerungen geltend machen – auch über die Höchstbefristungsdauer von sechs plus sechs bzw. neun Jahren hinaus.
  7. Die GEW fordert den Verzicht auf eine Höchstbefristungsgrenze für studentische Beschäftigung und die gesetzliche Verankerung einer Mindestvertragslaufzeit von zwei Jahren.
  8. Die GEW fordert einen vollständigen Verzicht auf die Tarifsperre.

Nachteilsausgleich endlich anwenden

Punkt eins ist wesentlich, weil sich der Rechtsbegriff der Qualifizierung in der Vergangenheit als eines der größten Probleme erwies. Er ist nur vage definiert; der große Spielraum bei der Auslegung führt dazu, dass nicht nur Promotion und Habilitation als Qualifizierungsziele gelten. In der Praxis lässt sich so immer ein Grund finden, zu befristen. „Die Gesetzesevaluation hat offengelegt, dass die Arbeitgeber praktisch jede wissenschaftliche Tätigkeit als ‚Qualifizierung‘ ansehen“, sagte Keller.

Punkt zwei, den Mindestlaufzeiten, kommt eine wichtige Rolle zu, weil Promovierende der Statistik zufolge fünf bis sechs Jahre bis zum Doktortitel brauchen – ihre Verträge im Schnitt aber nur rund 15 bis 18 Monate laufen.

Auch Punkt sechs, der Nachteilsausgleich, ist unter dem Stichwort der Chancengleichheit ein entscheidender Aspekt, denn die Evaluation zeigte: Die familien-, inklusions- und coronapolitische Komponente, die eine Verlängerung des Arbeitsvertrages ermöglichen könnte, existiert meist nur auf dem Papier. In der Fläche liegt ihre Anwendung bei gerade mal einem Prozent.

Video des Livestreams

Gesetzentwurf bis September

GEW-Vize Keller wählte bei der Konferenz scharfe Worte und sprach von einer „Qualifizierungslüge“ und „krimineller Energie der Arbeitgeber“. Zugleich gab er die künftige Roadmap vor: Voraussichtlich am 7. Juli 2022 will die GEW mit Bundestagsabgeordneten aus Koalition und Opposition über ihre Vorschläge debattieren. Eigentlich sollte dieses Podium schon Teil der Konferenz am 3. Juni sein, musste wegen der Bundestagsabstimmung über das Sondervermögen Bundeswehr jedoch abgesagt werden. 

Bis zur GEW-Wissenschaftskonferenz „Perspektiven für Hanna: Dauerstellen für Daueraufgaben – Gleiche Chancen für alle“ vom 21. bis 24. September 2022 in Dresden soll ein vollständiger Gesetzentwurf für ein Wissenschaftsentfristungsgesetz vorliegen.

Unterdessen gibt es auch auf der Seite derer, sie sich grundsätzlich einig sind, noch Diskussionsstoff: So gehen der Juniorprofessorin Amrei Bahr von der Universität Stuttgart, mitverantwortlich für #IchBinHanna, sowie Lisa Janotta von der Universität Rostock und vom Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft einige Formulierungen im Acht-Punkte-Plan nicht weit genug.

„Die Promotion ist eine fertige Ausbildung.“ (Amrei Bahr)

Sie plädieren etwa bei der Engführung des Qualifizierungsbegriffs dafür, sich auf die Promotion zu beschränken. „Die Promotion ist eine fertige Ausbildung“, betonte Bahr. Ein Postdoc sei nicht mehr in einer Qualifizierungsphase. Janotta ist die Forderung nach einer „Dauerperspektive“ zu verhalten. „Entfristung muss nach der Promotion zum Normalfall werden“, verlangt sie. Keller rief zum Abschluss der Konferenz dazu auf, den Sommer für eine „Strategiedebatte“ über das weitere politische Vorgehen zu nutzen.