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Kulturelle Bildung im Ganztag

„Zeichne deine Wut“

Der Stichtag für das Recht auf einen Ganztagsgrundschulplatz rückt näher. Die Kultusministerkonferenz (KMK) will die Zeit nutzen, um die Qualität der Schulen zu verbessern. Ein idealer Zeitpunkt also, um die kulturelle Bildung zu stärken.

Kurz vor dem Ende des Flurs im Erdgeschoss der Berliner Carl-Humann-Schule schimmert ein Deckenlicht violett: „Atelier“ steht in bunten Buchstaben an einer Tür. Wer diese öffnet, betritt eine Welt, die mit einem gewöhnlichen Schulraum nichts zu tun hat. Überall bunte Folien und Brillen, auf dem Tisch Goethes Farbenkreis, im Regal bunt gefärbte alte Corona-Teststreifen. Durch einen schwarzen Vorhang können Schülerinnen und Schüler in eine begehbare Camera Obscura eintauchen, die ganz neue Perspektiven ermöglicht.

„Hier gibt es Raum zu experimentieren, in dem es kein Richtig oder Falsch gibt. Nichts wird bewertet, stattdessen alles mit den Kindern entwickelt.“ (Vanessa Farfán)

Seit vier Jahren hat Vanessa Farfán ihr Atelier im Erdgeschoss der Grundschule in Prenzlauer Berg – ganzjährig, nicht nur ein paar Stunden in der Woche. Zugleich ist es kein Zufall, dass jede Schülerin und jeder Schüler mehrmals am Tag auf dem Weg zum Pausenhof an ihrer Tür vorbeigeht. „Es gibt Kinder, die kommen in der großen Pause“, erzählt sie, „hier gibt es Raum zu experimentieren, in dem es kein Richtig oder Falsch gibt. Nichts wird bewertet, stattdessen alles mit den Kindern entwickelt.“ Eine Evaluation des Artists-in-Residence-an-Schulen-Programms im Auftrag der Stiftung Brandenburger Tor spricht von „künstlerischen Bildungsprozessen“ und einem „Erfahrungslernen, für das die Schülerinnen und Schüler selbst verantwortlich zeichnen“.

AG „Kulturelle Bildung im Ganztag“

Die Stiftung ist Träger des Programms namens MAX, an dem sich zurzeit acht Berliner Schulen beteiligen. Dass die Carl-Humann-Grundschule mitmacht, ist kein Zufall: Stephan Wahner, Sprecher der Fachgruppe Grundschule in der Vereinigung der Berliner Schulleitungen in der GEW, war auch schon mal Performance-Künstler. Seit Jahren ist der Schulleiter und Kunstlehrer im Fachverband für Kunstpädagogik aktiv, vor einigen Monaten gründete er mit Kolleginnen und Kollegen aus Lehrkräfte- und Erzieherausbildung eine Arbeitsgemeinschaft. Diese heißt „Kulturelle Bildung im Ganztag“ und fordert: Mit dem Recht auf Ganztagsgrundschule 2026 müsse mehr Kunst und Kultur in den Schulalltag integriert werden.

In Briefen an die Kultusministerinnen und -minister sowie bei Pädagogischen Tagen an den Berliner Universitäten wollen sie ihrer Forderung Nachdruck verleihen. Günstig ist die Gelegenheit nicht nur wegen des nahenden Rechtsanspruchs. Berlin hat in diesem Jahr den Vorsitz in der KMK, auf die SPD-Politikerin Astrid-Sabine Busse folgte nach der Wiederholungswahl im März die CDU--Politikerin Katharina Günther-Wünsch. Busse gab im Januar als Jahreslosung die „Qualitative Weiterentwicklung der Ganztagsschule in der Primarstufe“ aus, Günther-Wünsch erklärte bei ihrem Amtsantritt Anfang Mai, dass sie an diesem Ziel festhalten werde.

Kunst ist ein Fach ohne Lobby

Bis jetzt stehen die Zeichen bei Wahner indes eher auf Sturm statt auf Hoffnung: „Gelobt wird die Kulturelle Bildung stets – doch weder das Land Berlin noch die KMK lässt dem Taten folgen“, konstatiert er. Insbesondere Kunst sei ein Fach ohne Lobby – und oft auch ohne Lehrkräfte: „Wohl kein anderer Unterricht wird so oft von fachfremdem Personal unterrichtet. Nun müssen wir befürchten, dass Kunst ganz ausfällt.“ Der Grund: Das Grundschulgutachten, das die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der KMK im Dezember 2022 vorgelegt hat, fordert angesichts des Nachholbedarfs vieler Kinder bei „basalen Kompetenzen“, dass in den 1. Klassen auf Deutsch- und Matheunterricht fokussiert wird.

Es sei „eher zu vertreten, wenn mal eine Stunde Kunst ausfällt als eine Stunde Deutsch“ – diesen Satz des SWK-Vorsitzenden Prof. Olaf Köller im ZDF hat Wahner sich gut gemerkt. „Das zeigt, wo es hingeht“, schimpft er, „die Stundentafel lässt schon heute kaum Raum für Kunst und Kultur.“ Auch die GEW warnte mit Blick auf das Gutachten: „Lesen, Schreiben, Rechnen sind zentrale Kompetenzen, aber damit ist es nicht getan“, so Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule.

„Es ist super, dass wir Künstlerinnen wie Vanessa Farfán und andere Partner an der Schule haben. Doch es braucht auch die curriculare Kunstpädagogik.“ (Stephan Wahner)

Indes gab die KMK im Dezember auch eine aktualisierte Fassung ihrer „Empfehlung zur Kulturellen Kinder- und Jugendbildung“ heraus. Diese spricht eine andere Sprache: Das „Unterrichtsangebot in Musik, Kunst und Theater“ müsse „unbedingt sichergestellt“ und „ggf. ausgebaut“ werden, heißt es. Und auch die Empfehlung unterstreicht den „erweiterten Handlungsspielraum“ im Ganztag, „insbesondere, wenn der Unterricht und außerunterrichtliche Angebote konzeptionell miteinander verzahnt sind“.

Da kann sich Wahner im Grunde anschließen, betont allerdings: „Es ist super, dass wir Künstlerinnen wie Vanessa Farfán und andere Partner an der Schule haben. Doch es braucht auch die curriculare Kunstpädagogik.“ Ein ideales Konzept für den Ganztag beschreibt er so: „Künstlerische Themen werden im Unterricht begonnen, von Erzieherinnen und Erziehern aufgegriffen, von außerschulischen Partnern ergänzt.“ An der Carl-Humann-Schule, in der Kinder der 1. bis 4. Klassen bis 18 Uhr, die der 5. und 6. Klassen bis 14 Uhr bleiben können, aber nicht müssen, gehe das in Ansätzen. „Noch besser geht es im gebundenen Ganztag“, betont Wahner, also in einer Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler zu festen Uhrzeiten einen gemeinsamen Rhythmus haben.

„Künstlerische Prozesse sind sogar ein Motor der Schulentwicklung.“

Argumente für eine Stärkung der Kulturellen Bildung haben der Schulleiter und die Künstlerin eine ganze Reihe, darunter auch klassisch didaktische: „Kreatives Denken ist wesentlich mit Sprache verschränkt“, sagt Wahner, „wer gemeinsam zeichnet und Fantasie entwickelt, kommt auch gemeinsam in die Sprache.“ Das gelte insbesondere auch für Schülerinnen und Schüler, die in der deutschen Sprache aufholen müssen. Zudem fördere das Experimentieren mit künstlerischen Methoden Selbstbewusstsein und Konzentration – und die Chance, sich mit all dem zu befassen, was zwischen Mathe und Deutsch meist zu kurz kommt.

„Kunst bietet die Möglichkeit, sich Emotionen zu stellen, die sonst im Verborgenen bleiben“, sagt Farfán und berichtet von einem Schüler, der plötzlich in einer großen Pause seine negativen Gefühle auf einen Block kritzelte. „Ich bin manchmal wütend“, erklärte er, „kann ich noch mal kommen?“ Klar, sagte Farfán und ermunterte ihn: „Zeichne deine Wut!“ Dasselbe gelte auch für positive Gefühle, sagt sie, das Schönste, was ihr ein Schüler je gesagt habe: „Vanessa, du machst keine Bilder. Du machst Illusionen.“ Zeit mit den Schülerinnen und Schülern hätte sie gern viel mehr: „Hier und da findet sich eine Stunde. Doch eigentlich brauchten wir über die Woche verteilt mit allen Klassen einen ganzen Schultag.“ Zurzeit ist sie nämlich dabei, die ganze Schule in ein „Parlament der Farben“ zu verwandeln. Alle Klassen sollen in einem demokratischen Prozess entscheiden, in welchen Farben ihr Flur beleuchtet werden soll; und sich diese zuvor mithilfe von Brillen erschließen. Wahner, der soeben erst von dem Projekt erfährt, ist begeistert: „Künstlerische Prozesse sind sogar ein Motor der Schulentwicklung!“