Bildungsungleichheit
„Wir haben uns zu wenig um die Kitas gekümmert“
In einem Beitrag für die GEW-Zeitschrift „DDS – Die Deutsche Schule“ analysieren Alexandra Marx und Prof. Kai Maaz, wie sich Bildungsungleichheiten im Schulsystem verringern lassen. Das Ergebnis erläutert Prof. Maaz im E&W-Interview.
- E&W: Anfang der 2000er-Jahre attestierte die erste PISA-Studie dem deutschen Schulsystem einen starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Trotz aller Reformbemühungen ist es bis heute nicht gelungen, diesen Zusammenhang aufzulösen. Woran liegt das?
Prof. Kai Maaz: Es gab durchaus Erfolge: Der Anteil der kompetenzschwachen Schülerinnen und Schüler sank in den ersten zehn Jahren nach der ersten PISA-Studie. Allerdings blieb der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg im Vergleich zu anderen Industrienationen nach wie vor hoch. Eine einzige Ursache für diese insgesamt unerfreuliche Entwicklung gibt es nicht. Ein Grund liegt möglicherweise darin, dass sich die bildungspolitischen Aktivitäten häufig nur auf die Bereiche konzentrieren, in denen die Bildungsungleichheiten jeweils aktuell sichtbar werden. Die Kompetenzunterschiede bei den 15-Jährigen werden aber nicht geringer, wenn man sich in den Bildungsprogrammen auf die Sekundarstufe I konzentriert. Wenn festgestellt wird, dass die Chancengleichheit beim Übergang auf die weiterführenden Schulen besonders niedrig ist, dann wird man diesen Missstand nicht beheben können, wenn man mit den Bemühungen zum Abbau von Ungleichheiten erst am Ende der Grundschulzeit ansetzt.
In den vergangenen 20 Jahren wurde zu Recht auf die Entwicklung des Unterrichts geschaut, und hierzu liegen mittlerweile auch profunde Erkenntnisse vor. Wir haben aber meines Erachtens drei Dinge zu wenig beachtet: Durch den Fokus auf Unterricht ist erstens der systemische Blick auf die spezifischen Rahmenbedingungen der Schule vor Ort zu kurz gekommen. Wir haben zweitens den Bildungs- und Sozialisationsorten neben der Schule zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und drittens haben wir uns trotz eines bedeutenden Ausbaus an Kita-Angeboten viel zu wenig um den Bildungsauftrag in diesem Bereich gekümmert.
- E&W: Man müsste die Kinder also konsequent bereits in der Kita besser fördern?
Maaz: Ja, wir wissen mittlerweile, dass die Unterschiede bei Bildungskompetenzen schon bei Zweijährigen festzustellen sind, zum Beispiel beim Spracherwerb. Es ist also notwendig, dass die Bildungsforschung und die Politik künftig der frühkindlichen Bildung eine besondere Beachtung schenken und die Politik mit Maßnahmen gegen Bildungsungleichheit dort ansetzt – und nicht erst in der Schule.
- E&W: Hat die Politik das Problem erkannt?
Maaz: Sie hat zumindest erkannt, dass dieses Land es sich nicht leisten kann, weiterhin einem Teil der Jugendlichen Lebens- und Entwicklungschancen zu rauben und ein Potenzial, auf das diese Gesellschaft angewiesen ist, weiterhin brach liegen zu lassen. In den vergangenen Jahren gab es im Bereich der Unterrichtsentwicklung an den Grundschulen viele Programme, um Basiskompetenzen zu fördern. Im frühkindlichen Bereich herrscht meines Erachtens noch großer Handlungsbedarf.
- E&W: Ein Bestandteil der Reformen nach dem sogenannten PISA-Schock war die Entwicklung von Bildungsstandards und Schulleistungsvergleichstests. Welchen Effekt hatten diese beiden Maß-nahmen, um Bildungsungleichheit zu verringern?
Maaz: Bildungsstandards und Vergleichsstudien sind wichtige Bausteine, um Bildungsungleichheiten abzubauen. Es müssen aber auch die richtigen Konsequenzen gezogen werden. Sicherlich ist es hilfreich, wenn Lernstände frühzeitig diagnostiziert werden und auf Förderbedarfe hingewiesen wird. Dann darf es aber nicht bei der Diagnose bleiben; es müssen auch rasch entsprechende Schritte für eine bessere individuelle Förderung der Kinder umgesetzt werden. Diesbezüglich gibt es zwischen den 16 Bundesländern große Unterschiede.
- E&W: Muss der Fokus bei den Bemühungen, Bildungsungleichheit abzubauen, stärker darauf gerichtet werden, wie es den Schulen gelingt, ein gutes Lernklima zu schaffen? Ein Klima, das nicht unbedingt Spitzenleistungen hervorbringt, aber etwa soziale Kompetenzen, Kommunikations- und Teamfähigkeit, Belastbarkeit und Resilienz fördert?
Maaz: Ja, ich würde die sozialen und kognitiven Kompetenzen jedoch nicht gegeneinander ausspielen wollen. Beides ist wichtig; wer nur über gute soziale Kompetenzen verfügt, aber geringe Wissenskompetenzen hat, wird später im Leben seine Probleme bekommen.
- E&W: Wodurch zeichnen sich nach Ihren Beobachtungen Schulen aus, denen es besser als anderen gelingt, sozial bedingte Nachteile auszugleichen?
Maaz: Durch einen kooperativen, transparenten Führungsstil der Schulleitungen; durch ein kontinuierliches Erheben von Daten zum Monitoring des Lernerfolgs und -fortschritts der Schülerinnen und Schüler; durch eine Schulkultur, die einerseits hohe Leistungsanforderungen an die Schülerinnen und Schüler stellt, andererseits aber für ein wertschätzendes und vertrauensvolles Lernklima sorgt; durch einen klaren Fokus auf den Unterricht als Kernaufgabe der Schule, von dem unseren Beobachtungen nach Kinder und Jugendliche an Schulen mit herausfordernden sozialen Lagen besonders profitieren, sowie durch die Nutzung externer Unterstützungsstrukturen wie die Zusammenarbeit mit außerschulischen Bildungsanbietern.
- E&W: Außerschulische Bildungsanbieter verschärfen eher die Bildungsungleichheit. Den privaten Klavierunterricht können sich ärmere Eltern nicht leisten.
Maaz: Ja, und gerade deshalb muss sich die Schule mit solchen Angeboten im sozialen Umfeld kohärent vernetzen und diese allen Kindern zur Verfügung stellen. Wir haben vor einigen Jahren die Partizipation an Bildungsangeboten im vorschulischen Bereich untersucht. Das Ergebnis, dass Kinder aus formal höher gebildeten Elternhäusern häufiger an musikalischer Früherziehung teilnehmen als Kinder schlechter gebildeter Eltern, war erwartbar. Überrascht hat mich, dass dieser Effekt auch bei der Teilnahme an Sportangeboten festzustellen war. Auch in Sportvereinen geht es ja nicht nur darum, dass die Kinder zum Beispiel Fußball spielen; sie kommunizieren miteinander, bewegen sich aus ihrem Stadtteil heraus, die Eltern bauen soziale Netzwerke auf. Es gibt bei den außerschulischen Bildungsanbietern zudem einen Bereich, der meines Erachtens zu wenig Beachtung erhält: die Lerntherapie.
Wirksame Angebote etwa gegen eine Lese-Rechtschreibschwäche müssen in der Regel von den Eltern selbst organisiert und finanziert werden. Auch hier sind Eltern mit einem guten Bildungshintergrund im Vorteil, da sie gut ausgebaute Netzwerke und Unterstützungsangebote haben, von der Finanzierung ganz zu schweigen. Wichtig wäre also, dass lerntherapeutische Angebote strukturell an die Schule angedockt werden. Dies hätte für die Kinder den Vorteil, dass sie die Förderung direkt vor Ort erfahren und damit keine langen Wege haben, die oft mit zusätzlichem Unterrichtsausfall verbunden sind. Auch Lehrkräfte und Lerntherapeuten könnten sich direkt austauschen. Zudem müssten die finanziellen Belastungen der Familien durch solche Angebote reduziert werden.
- E&W: Die Politik versucht verstärkt, Schulen in schwierigen sozialen Lagen mit Programmen zur Schulentwicklung zu unterstützen. Eines dieser Programme ist das Berliner Bonus-Programm, mit dem seit 2014 Schulen an sozial benachteiligten Standorten gefördert werden. Ihre Evaluation des Programms fiel zwiespältig aus. Einerseits stellten Sie Erfolge wie ein besseres Schulklima fest, andererseits kritisierten Sie, dass es kaum positive Effekte mit Blick auf bessere individuelle Leistungen der Kinder und Jugendlichen gibt. Sind Maßnahmen wie das Bonus-Programm deshalb ein Misserfolg?
Maaz: Nein, der Ansatz des Berliner Programms, Schulen zusätzliche finanzielle Mittel bereitzustellen, über die diese eigenverantwortlich verfügen dürfen, ist erstmal richtig. Aber Geld allein macht weder den Unterricht besser, noch führt es zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Mehr Eigenverantwortung auch mit zusätzlichen Budgets setzt voraus, dass man die Schulen in die Lage versetzt, mit dieser Eigenständigkeit auch umgehen zu können. Schulen benötigen also eine kontinuierliche Begleitung und Unterstützung von außen. Am Berliner Bonus-Programm, aber auch an anderen, ähnlich strukturierten Projekten fällt auf, dass gerade die Schulen erfolgreich die Bildungsungleichheit bekämpfen, denen die Freiräume gelassen werden, aus einem Bündel von Maßnahmen auszuwählen.
An der einen Schule ist es möglicherweise die Unterrichtsentwicklung, die an erster Stelle steht, an einer anderen das außerschulische Lernen. Es bringt wenig, sich auf die Förderung etwa von Mathekompetenzen zu fokussieren, wenn es vorher nicht gelungen ist, die Prozessqualität der Schule zu verbessern, zum Beispiel die Kooperationsstrukturen innerhalb des Kollegiums oder die Lernkultur. Die vielleicht größte Herausforderung ist aber, im System vernetzt zu agieren. Es geht gar nicht darum, das x-te Förderprogramm zu entwickeln, sondern die Unterstützungsmaßnahmen, die da sind, miteinander kohärent zu vernetzen.
- E&W: Das alles ist aber nicht zum Nulltarif zu haben. Bildung kostet, das System ist aber seit Jahrzehnten unterfinanziert.
Maaz: Stimmt. Selbstverständlich wäre es wünschenswert, dass das Bildungssystem insgesamt besser finanziert wird. Aber auch das vorhandene Geld ließe sich besser einsetzen, indem man gerade Schulen in benachteiligten Sozialräumen besser ausstattet. Denn eines haben unsere Untersuchungen gezeigt: Schulen sind zentrale Akteure, um Bildungsungleichheiten zu reduzieren.