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Gymnasien und nicht-gymnasiale Schulformen

„Wir brauchen eine neue Schulstrukturdebatte“

In einem Beitrag für die DDS – Die Deutsche Schule, die wissenschaftliche Zeitschrift der GEW, analysiert Prof. Marcel Helbig gymnasiale und nicht-gymnasiale Schulformen – mit Blick auf Inklusion, Migration und Lehrkräftemangel.

Prof. Marcel Helbig leitet den Arbeitsbereich Strukturen und Systeme am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) an der Universität Bamberg. (Foto: privat)
  • E&W: In den vergangenen Jahren wurde die Haupt-schule in den meisten Bundesländern abgeschafft und nach der Grundschule ein zweigliedriges System aus einer nicht-gymnasialen Schulform und dem Gymnasium eingeführt. Meistens führen beide Schulformen zum Abitur. Sie plädieren dennoch für eine neue Schulstrukturdebatte. Warum?

Prof. Marcel Helbig: Die Umstellung von einer drei- auf eine zweigliedrige Mittelstufe hat die Ungleichheiten im Bildungssystem nicht wirklich behoben. Die Leistungsunterschiede in den nicht-gymnasialen Schulformen sind sehr groß und Eltern, die ihr Kind früher in eine Realschule geschickt hätten, könnten versucht sein, vor den neuen Problemlagen auf das Gymnasium auszuweichen. Nicht-gymnasiale Schulen stemmen die Inklusion, nehmen Schülerinnen und Schüler auf, die vormals auf Förderschulen verwiesen wurden, während die Gymnasien weitestgehend von Inklusionsaufgaben verschont bleiben. Die Inklusionsquote in den nicht-gymnasialen Schulformen ist teilweise 50 Mal höher als die in Gymnasien. Lediglich in Bremen beträgt die Inklusionsquote an Gymnasien mehr als 1 Prozent; in den Oberschulen liegt sie dort bei annähernd 12 Prozent. Ähnlich sieht es beim Thema Migration aus. Die Herausforderungen durch die Zuwanderung Geflüchteter haben nach 2015 die Grundschulen und in der Sekundarstufe I hauptsächlich die nicht-gymnasialen Schulformen getragen. Zwischen den Schuljahren 2014/15 und 2017/18 stieg die Zahl zugewanderter Schülerinnen und Schüler an nicht-gymnasialen Schulformen deutlich stärker als an den Gymnasien.

  • E&W: Wie ist das zu erklären?

Helbig: Es ist die Basis unseres gegliederten Schulsystems, dass es eine leistungsbasierte Zuweisung gibt und nach der Grundschule nur die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler zum Gymnasium gehen sollen, weil nur sie den Anforderungen dieser Schulform gerecht werden können. Kinder mit Förderbedarf oder Zugewanderte mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen passen nach dieser Logik nicht ins Gymnasium.

  • E&W: Sie konstatieren in Ihrem DDS-Beitrag auch, dass die Gymnasien deutlich weniger stark vom Lehrkräftemangel betroffen sind als andere Schulformen.

Helbig: Ja. Es gibt zwar auch in Gymnasien einen Mangel an grundständig ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern. Im Schnitt erreichen die Gymnasien allerdings in so gut wie allen Bundesländern eine Unterrichtsabdeckung mit Lehrkräften von annähernd 100 Prozent. In den Gymnasien finden sich im Vergleich zu den nicht-gymnasialen Schulformen und Grundschulen auch die wenigsten Quereinsteigerinnen und -einsteiger. Wir stehen in dieser Entwicklung aber erst am Anfang, denn die meisten Studienanfängerinnen und -anfänger entscheiden sich für das Lehramt an Gymnasien. Mittlerweile hat eine Reihe von Ländern die Gehaltsunterschiede zwischen den Lehrämtern zwar angeglichen, dass das zu mehr Lehramtsstudierenden außerhalb des Gymnasiallehramts geführt hätte, kann ich bisher nicht erkennen.

  • E&W: Wie ist dieses Ungleichgewicht zu erklären?

Helbig: Die Gründe dafür kann ich nur vermuten. Die Tatsache, dass die beschriebenen Herausforderungen an den Schulformen außerhalb des Gymnasiums so groß und die Arbeitsbedingungen in diesen Schulen schlechter geworden sein müssen, mag ein Grund sein.

  • E&W: In Ihrem DDS-Text bleiben Sie in Ihren Schlussfolgerungen etwas vage. Sie sprechen sich für eine -Debatte aus, die „das Gymnasium in seiner jetzigen Form“ in Frage stellt. Das klingt nicht unbedingt nach einer radikalen Forderung.

Helbig: Man muss in der Tat einen Schritt nach dem anderen tun. In einigen Bundesländern wird zum Beispiel derzeit über die Einführung einer Stufenlehrerausbildung diskutiert. Das hieße, dass Lehrerinnen und Lehrer künftig nicht mehr schulformspezifisch – also für das Gymnasium oder die nicht-gymnasialen weiterführenden Schulen –, sondern einheitlich für alle Schulformen der Sekundarstufe I ausgebildet werden. Schon allein diese Überlegung führt bei konservativen Bildungspolitikerinnen und -politikern zu heftigen Abwehrkämpfen. Um es aber noch einmal klar zu sagen: Es muss etwas passieren, denn dass die Schulen mit den größten Herausforderungen die geringste Ressourcenausstattung haben, ist das Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit.