Türkische Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen
„Wir werden weiter kämpfen”
Die Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen warnt vor zunehmenden Repressionen in der Türkei und sieht dringenden Nachholbedarf in der Corona-Krise. Ein Interview mit der neuen Vorsitzenden, Nejla Kurul.
- Nejla, im November 2020 wurdest du auf der Hauptversammlung von Eğitim-Sen in Ankara mit großer Mehrheit zur neuen Vorsitzenden gewählt. Herzlichen Glückwunsch! Kannst du uns etwas zu deiner Person sagen?
Nejla Kurul: Zuletzt habe ich als Professorin an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Ankara-Universität gearbeitet. Nachdem ich dort 31 Jahre tätig war, wurde ich ebenso wie mehr als 400 weitere Akademiker*innen durch Notverordnungen im Februar 2016 aus dem Dienst entlassen. Hintergrund war, dass wir mit dem Aufruf ‘Wir werden an diesem Verbrechen nicht beteiligt sein’ auf die massiven Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten durch den von der Regierung willkürlich verhängten Ausnahmezustand aufmerksam gemacht haben.
Ich habe trotzdem versucht, meine Forschungsarbeit an der Universität fortzusetzen und mein Buch ’Eine andere Bildungsgeschichte’ fertig gestellt. Engagiert habe ich mich weiterhin gegen die Entlassungen und für eine demokratische Türkei zusammen mit anderen Akademiker*innen sowie als Vorstandsmitglied der ‘Demokratische Partei der Völker’ (HDP). Von dieser Tätigkeit habe ich mich für meine Wahl zur Eğitim-Sen Vorsitzenden entbinden lassen. Als ich gefragt wurde, für den Vorsitz von Eğitim-Sen zu kandidieren, habe ich mich sehr geehrt gefühlt.
- Mit welchen Themen habt ihr euch auf dem Kongress beschäftigt?
Nejla Kurul: Die Delegiertenversammlung hat als Präsenzversammlung stattgefunden, allerdings war die Beteiligung wegen der Covid-19-Pandemie eingeschränkt. Es wurde ein differenziertes Arbeitsprogramm verabschiedet. Wir wollen verhindern, dass die Covid-19-Pandemie als Vorwand von der Regierung genutzt wird, um im Bildungsbereich untätig zu bleiben. Zur Förderung benachteiligter Kinder braucht es besondere Programme, damit die ohnehin vorhandene Ungleichheit nicht weiterwächst. Eğitim-Sen tritt für das Recht auf ‘Bildung in der Muttersprache’ sowie für öffentlich finanzierte Bildung ein, die für alle zugänglich ist. Und wir wurden von den Delegierten beauftragt, den ökologischen Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt voranzutreiben.
- Wie ist die Situation an den Schulen?
Nejla Kurul: Im September 2020 hat die Regierung den Schulbetrieb für zwei Tage in der Woche für den Präsenzunterricht wieder geöffnet. Die hygienischen Maßnahmen waren leider mangelhaft, zu viele Schüler*innen wurden gleichzeitig unterrichtet und es gab keinen kostenlosen Mund- und Nasenschutz. Auch im Budget 2021 des Schulministeriums spiegelt sich nicht wider, dass im Land eine Pandemie herrscht und jeden Tag Tausende von Menschen ihr Leben verlieren. Schüler*innen, Lehrkräfte und Eltern werden einfach alleingelassen.
Angesichts steigender Infektionszahlen findet derzeit erneut Fernunterricht für die 18 Millionen Schüler*innen in der Türkei statt. Die Lehrkräfte wurden nicht mit Endgeräten ausgestattet. Zudem erreichen wir eine Vielzahl der Schüler*innen mit dem Fernunterricht nicht, da sie zu Hause keine Internetverbindung oder keinen Computer haben. Auch die Kapazität des zentralen Netzwerks für den Fernunterricht reicht bei weitem nicht aus, wie die Zahlen des Schulministeriums zeigen. Mit Sorge sehen wir, dass die Ungleichheit zwischen den Kindern in privaten und öffentlichen Schule viel größer geworden ist.
- Aktuell protestieren Hochschulmitglieder an der Boğaziçi-Universität in Istanbul. Eğitim-Sen hat sich solidarisiert.
Nejla Kurul: Wir stellen fest, dass der Druck auf die Bildungseinrichtungen wächst. Bei der Boğaziçi-Universität handelt es sich um eine sehr fortschrittliche Bildungseinrichtung, in der alle Beschlüsse demokratisch gefasst und Stellenbesetzungen demokratisch bestimmt werden. Bekannterweise hat Staatspräsident Erdogan einen AKP-treuen Menschen als Rektor eingesetzt. Dieser hatte bei den letzten Parlamentswahlen für die AKP kandidiert, wurde aber nicht gewählt. Auf die Proteste der Hochschulmitglieder wurde sofort mit massiver Polizeipräsenz geantwortet.
Die erste Handlung des eingesetzten Rektors Melih Bulu und der Polizei war es, den Zutritt der Studierenden zur Hochschule zu verhindern. Zu diesem Zweck haben sie die Tore der Bosporus-Universität mit Schwellen dichtgemacht. Jeden Tag werden Studierende festgenommen. Dies ist ein klarer Versuch, die kritischen Stimmen zum Schweigen zu bringen und die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken.
Wir wollten mit einer Delegation die Studierenden und die Beschäftigten in der Boğaziçi-Universität besuchen und unsere Solidarität zeigen. Dies wurde leider von den Ordnungsbehörden verhindert, obwohl Eğitim-Sen an der Hochschule Mitglieder hat. In der Begründung hieß es, dass die Universität nur von Hochschulangehörigen betreten werden darf. Wir fordern zur Solidarität mit den Hochschulmitgliedern auf und verlangen, die Studierenden, die für ihre demokratischen Rechte kämpfen, sofort freizulassen.
- Du hast eingangs die massenhaften Entlassungen in der Türkei angesprochen, von denen du selbst betroffen bist. Gibt es einen neuen Stand?
Nejla Kurul: Im Juli 2019 hat das Verfassungsgericht den Aufruf als freie Meinungsäußerung eingestuft und damit untermauert, dass wir grundlosen Anschuldigungen und Freiheitsstrafen ausgesetzt waren. Trotzdem wurden mir und vielen meiner Kolleg*innen bis heute verwehrt, unseren Dienst wieder aufzunehmen. Nach Ausschöpfung der internen Rechtswege müssen wir uns nun an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. Wir werden weiter dafür kämpfen, dass unsere vom Dienst suspendierten bzw. entlassenen Mitglieder rehabilitiert werden und ihre Stellen im Schuldienst und an den Hochschulen wieder aufnehmen können. Dies haben wir auch auf der Delegiertenversammlung bekräftigt.
Derzeit warten über 16.000 Fälle auf ihre Rehabilitation, darunter sind über 1200 Eğitim-Sen-Mitglieder. Während in der Notstandskommission über 87 Prozent der Fälle entschieden wurden, liegt die Entscheidungsquote bei unseren Mitgliedern nur bei 21 Prozent. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Akten unserer Mitglieder bewusst zurückgestellt werden.
Die Behinderung gewerkschaftlicher Arbeit geht weiter. Zu Beginn des Schuljahres 2017/18 wurden 1190 Mitglieder von Eğitim-Sen wegen ihrer gewerkschaftlichen Aktivität – vorübergehend – vom Dienst suspendiert. Viele sollten gegen ihren Willen zwangsversetzt werden.
- Für die GEW ist Eğitim-Sen ein wichtiger Partner. Wie können wir unterstützen?
Da der Druck auf oppositionelle Parteien, auf die Gewerkschaften und demokratische Organisationen in der Türkei rapide zunimmt, freuen wir uns über jede Form der Unterstützung durch die GEW und den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Es gilt, weiterhin Öffentlichkeit zu schaffen und Druck auf die politischen Entscheidungsträger in der Türkei aufzubauen, damit die seit 2016 durch Notverordnungen entlassenen Beschäftigten rehabilitiert werden. Eğitim-Sen unterstützt die entlassenen Mitglieder auch finanziell. Viele unserer Mitglieder haben ihre Gewerkschaft zu diesem Zweck mit Zusatzbeiträgen unterstützt. Dies gestaltet sich jedoch angesichts steigender Lebenshaltungskosten immer schwieriger. Wir wollen dieses Unterstützungsnetz ausbauen, auch international. Und wir freuen uns auch über einen regelmäßigen gewerkschaftlichen Austausch, zum Beispiel in Form von Videokonferenzen.
Info: Nejla Kurul nimmt am 5. März 2021 an der GEW-Veranstaltung “Internationale Solidaritätsarbeit” teil.