Zum Inhalt springen

Ganztagsbetreuung

Rechtsanspruch häppchenweise

Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung soll bis 2029 jahrgangsweise umgesetzt werden. Ursprünglich hatte die Bundesregierung eine Umsetzung bis 2025 versprochen. Ungeklärt sind nach wie vor Fragen der Finanzierung.

In Westdeutschland war die Halbtagsschule bis zur Jahrtausendwende die Regel, obwohl der Deutsche Bildungsrat bereits in den 1960er-Jahren Gesamtschulen empfohlen und diese mit dem Konzept der Ganztagsschule verknüpft hatte. (Foto: picture alliance/Klaus Rose)

Als in den 1960er- und 1970er-Jahren die ersten Ganztagsschulen in der Bundesrepublik starteten, waren sie Exoten mit wenigen Schülerinnen und Schülern. Der Deutsche Bildungsrat, ein Berater-gremium für die Bundesländer, hatte Schulversuche mit Gesamtschulen empfohlen und das mit dem Konzept der Ganztagsschule verknüpft. Schließlich beschloss die Kultusministerkonferenz (KMK) im Juli 1969, das Experiment Ganztagsschule zu wagen.

Die Idee dahinter gehört bis heute zu den Hauptargumenten für den Ausbau von Ganztagsschulen: mehr Chancengleichheit. Wenn Kinder nicht nur von 8 bis 12 Uhr in der Schule sind, so die Hoffnung, gelingt individuelle Förderung besser, können Nachteile gerade für Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Schichten besser ausgeglichen werden.

Kein Zusatzangebot für arbeitswütige Eltern

Um den zweiten Beschleuniger für den Ausbau von Ganztagsschulen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ging es in den 1970er-Jahren – zumindest in Westdeutschland; das Schulsystem der DDR war zu dieser Zeit bereits flächendeckend auf die ganztägige Betreuung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet – eher am Rande. Der Bildungsforscher Klaus Klemm, der die Entwicklung von Anfang an kennt, belegt das gern mit einem Zitat des früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Lothar Späth (CDU).

Der hatte demnach noch 1980 im Stuttgarter Landtag gesagt, der Ganztag sei der gefährliche Versuch, den elterlichen Einfluss auf ihre Kinder zu schmälern. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis Bund und Länder erkannten, dass die Ganztagsschule kein Zusatzangebot für besonders arbeitswütige Eltern ist, sondern dass viele Familien in Deutschland mit der klassischen Halbtagsschule nicht länger zurechtkommen.

Einen weiteren Schub bekam die Entwicklung durch den PISA-Schock nach der Jahrtausendwende. Die internationalen Schüler-Vergleichsstudien offenbarten, dass die Bildungsnation Deutschland in Mathematik, beim Lesen und in den Naturwissenschaften dabei war, abgehängt zu werden. Der zweite Befund: Auch beim Thema Chancengleichheit fiel das deutsche Schulsystem negativ auf. Die soziale Herkunft entscheidet stark mit darüber, ob Kinder in der Schule erfolgreich sind oder nicht. Damit rückten die Ganztagsschulen und ihr Potenzial an Fördermöglichkeiten noch mehr in den Fokus.

Streit um die Finanzierung

Im Dezember 2001 reagierte die KMK mit einem Maßnahmenplan auf das PISA-Desaster – unter anderem sollten schulische und außerschulische Ganztagsangebote ausgebaut werden. Das Ziel: „erweiterte Bildungs- und Fördermöglichkeiten, insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit Bildungsdefiziten und besonderen Begabungen“.

Rund ein Jahr später startete die damalige rot-grüne Bundesregierung dann das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB), ausgestattet mit vier Milliarden Euro für den Ganztagsausbau in allen Bundesländern bis 2009. Damit beschleunigte sich auch die -Debatte über einen Rechtsanspruch auf Betreuung und Bildung. Den Anfang machte die frühkindliche Förderung, hier gibt es schon seit 2013 einen Rechtsanspruch für Kinder ab dem ersten Geburtstag in einer Tageseinrichtung.

Bis 2025 sollen nun auch Grundschülerinnen und -schüler einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz bekommen – eigentlich. Darauf hatten sich Union und SPD schon 2018 im Koalitionsvertrag geeinigt. Details nannten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder Anfang Dezember 2020. Demnach könnte sich das Vorhaben verschieben. Geplant ist jetzt ein Stufenverfahren: Der Rechtsanspruch soll bis zum Jahr 2029 gestreckt und jahrgangsweise umgesetzt werden.

Hintergrund ist, dass Bund und Länder immer noch um die Finanzierung ringen. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sagte nach den Bund-Länder-Beratungen, eine Einigung sei „bei gutem Willen möglich“. Ob, und wenn ja, wann das klappt, ist aber völlig offen. Zwar hat der Bund mittlerweile ein Sondervermögen von ursprünglich geplanten zwei Milliarden auf 3,5 Milliarden Euro angehoben. Davon können die Bundesländer in einem ersten Schritt 750 Millionen Euro nutzen, um mit Investitionen den Ganztagsausbau zu beschleunigen. Allerdings hat der Bundesrat schon signalisiert, dass die Länder weitere Unterstützung brauchen, um den Rechtsanspruch tatsächlich umzusetzen.

„Wir gehen von Investitionskosten zwischen 5,3 und 7,5 Milliarden Euro aus.“ (Markus Sauerwein)

Auch die GEW fordert zusätzliche Mittel. Der aktuelle Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verweist auf kritische Stimmen auch mit Blick auf die Kommunen. Denn schon jetzt, so heißt es im Bericht, werde über einbrechende Einnahmen durch die Corona-Pandemie diskutiert – und damit über die Frage, ob man sich den Rechtsanspruch überhaupt noch leisten könne.

Auch Bildungsforscherinnen und -forscher bezweifeln, dass die bisher geplanten Mittel ausreichen. Der Erziehungswissenschaftler und Ganztagsexperte Markus Sauerwein verweist auf eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und eine ergänzende Expertise der Bertelsmann Stiftung*, an der er beteiligt war. „Wir gehen von Investitionskosten zwischen 5,3 und 7,5 Milliarden Euro aus“, sagt Sauerwein. Außerdem sei ab 2025 mit Betriebskosten von bis zu 5,3 Milliarden für zusätzliche Ganztagsplätze zu rechnen. Die Bertelsmann Stiftung bilanziert, dass insgesamt bis zu 1,1 Millionen weitere Ganztagsplätze bundesweit gebraucht werden, um den Bedarf zu decken.

Großer Personalbedarf

Um die Lücken zu den Rechtsanspruch-Vorgaben zu schließen, wird auch neues Personal benötigt, also unter anderem Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer. Das dürfte mit Blick auf den Arbeitsmarkt ein Kraftakt werden. „Schon jetzt ist zu erkennen, dass es etwa bei den sozialpädagogischen Fachkräften einen großen Personalmangel gibt“, sagt Sauerwein. Zwar ist auch er der Ansicht, dass der Ganztag gutes Fachpersonal braucht.

Aber ohne die Gruppe der „pädagogischen Laien“ ist der Rechtsanspruch ab 2025 seiner Ansicht nach nicht umzusetzen. „Der Musiker, der mit Kindern ein Stück probt, muss nicht auch Sozialpädagoge sein, die Klettertrainerin kann auch Maschinenbau studiert haben“, sagt der Erziehungswissenschaftler. Gleichzeitig plädiert er für Weiterqualifizierungen und klare Regeln: „Es muss deutlich werden, wie das Verhältnis zwischen professionellen Fachkräften und Laien mit Blick auf den Personalschlüssel gestaltet wird. Ansonsten droht eine Deprofessionalisierung bei der Bildung außerhalb des Unterrichts.“