Pädagogik und Digitalisierung
Recht auf Nicht-Erreichbarkeit
Die Digitalisierung in Schulen birgt für Lehrkräfte einige Risiken, besonders beim Datenschutz. Eine Arbeitsgruppe des GEW-Bundesforums zur Digitalisierung sucht Auswege aus dem Dilemma.
Annika Ahlers aus Rostock hatte ein Problem: Während der flächendeckenden Schulschließungen in der Corona-Zeit wollte die ambitionierte Mathelehrerin die Hausarbeiten ihrer Schülerinnen und Schüler schnell korrigieren, bewerten und zurückschicken. Ihre Gesamtschule hatte zwar Anfang des Jahres alle Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler mit einem Account bei Microsoft Office versorgt – verfügt aber nur über stationäre Personal-Computer. Also legte Ahlers zu Hause auf dem Laptop los.
„Wenn Lehrkräfte ihre privaten Computer für schulische Aufgaben nutzen, stoßen sie schnell an Grenzen des Datenschutzes.“ (David Warneck)
Doch in Sachen Datenschutz hatte die Kollegin aus dem fiktiven Beispiel eine Reihe roter Linien mindestens berührt, wenn nicht überschritten. „Wenn Lehrkräfte ihre privaten Computer für schulische Aufgaben nutzen, stoßen sie schnell an Grenzen des Datenschutzes“, sagt GEW-Digitalexperte David Warneck. „Sie müssen die persönlichen Daten ihrer Schüler schützen – auch vor den Blicken von Familienmitgliedern. Doch dazu brauchen sie Verschlüsselungssoftware, mitunter eine Zwei-Faktor-Authentifizierung* und spezielles Know-how, das sie erst erwerben müssen.“ Denn andernfalls, so Warneck, könnten Angehörige oder Freunde der Lehrkräfte auf gemeinsam genutzten Laptops statt Netflix auch den Notenspiegel der Klasse anschauen. Das sei rechtlich nicht zulässig und bringe Lehrkräfte schnell in die Bredouille.
„Da in Deutschland Schulpflicht gilt, sind die Schulen auch für die Daten verantwortlich. Sie müssen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleisten“, betont Warneck. Bei der Umsetzung des Digitalpakts Schule müssten für alle Geräte, Software und Lernplattformen in Unterricht und Verwaltung Mindeststandards beim Datenschutz festgelegt und sichergestellt werden. Auch die Privatsphäre der Lehrkräfte sei dabei in den Dienstvereinbarungen der Länder sicherzustellen. „Die Personalräte müssen hier mitbestimmen dürfen.“
„In der privaten Wirtschaft ist es selbstverständlich, dass Arbeitgeber die Ausstattung für Beschäftigte im Homeoffice bezahlen. Nur von uns Lehrkräften wird ganz selbstverständlich erwartet, dass wir private Technik verwenden.“
Warneck kennt das heikle Metier: Der 34-jährige Lehrer für Deutsch, Englisch und Kunst ist Sprecher der Arbeitsgruppe für Arbeit, Rechte und Arbeitsbedingungen im GEW-Bundesforum „Bildung in der digitalen Welt“ und Mitglied im Hauptpersonalrat in Baden-Württemberg. Außerdem leitet er den Arbeitskreis Digitalisierung der GEW des Landes. Er weiß, welchen technologischen und rechtlichen Fragen gerade Personalräte bei der beschleunigten Digitalisierung in Corona-Zeiten begegnen müssen. „In der privaten Wirtschaft ist es selbstverständlich, dass Arbeitgeber die Ausstattung für Beschäftigte im Homeoffice bezahlen. Nur von uns Lehrkräften wird ganz selbstverständlich erwartet, dass wir private Technik verwenden“, kritisiert er. „Dabei haben wir einen Anspruch auf die Ausstattung.“ Wie dünn das Eis ist, zeigt der Fall Thüringen: Hier droht der Datenschutzbeauftragte Lehrkräften mit bis zu 1.000 Euro Bußgeld wegen möglicher Verstöße beim Digitalunterricht – was die GEW scharf kritisiert.
Dienstliche Ausstattung würde den Lehrerinnen und Lehrern im Unterschied zu privaten Geräten Rechtssicherheit geben, sagt Warneck. Doch in der Regel seien die Kommunen als Schulträger schlicht überfordert, für alle Lehrkräfte Laptops zu kaufen und zu warten. Für Lehrkräfte bleibe damit als Ausweg oft nur die Arbeit an Computern in der Schule statt im Homeoffice. Doch auch die Schulen müssten einige Grundregeln beachten. Das Verwaltungsnetzwerk mit personenbezogenen Daten von Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften einerseits und das pädagogische Netzwerk andererseits seien voneinander zu trennen – am besten durch unterschiedliche Server. Zugriffe von außen etwa auf Daten und Adressen von Lehrkräften müssten ausgeschlossen bleiben.
Versteckte Mehrbelastung
Nicht ohne Fallstricke ist auch die Nutzung von Cloud-Lösungen für das Homeschooling. Warneck beobachtet mit Misstrauen, dass in der Corona-Krise schnell zu Angeboten großer Datenkonzerne wie Microsoft, Google und Co. gegriffen wurde. Doch die Server stehen in den USA, wo keine Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gilt. Datenschutz? Unsicher! „Die Bundesländer sind gut beraten, digitale Lernplattformen für Unterrichtsmaterialien, den Online-Austausch und Videokonferenzen selbst aufzubauen oder Verträge mit Unternehmen zu schließen, die die DSGVO sicherstellen“, rät der GEW-Fachmann. „Mit einer Lösung in öffentlicher Hand gibt es Rechtssicherheit.“ Ein gangbarer Weg sei die offene Lernplattform Moodle, wenn die Länder dort Vereinbarungen schließen.
Eine Lehrkraft könne aber nicht gezwungen werden, Videounterricht von zu Hause aus anzubieten oder für Freigaben einen Fingerabdruck oder eine Gesichtserkennung zu nutzen. „Biometrische Daten dürfen keine Pflicht werden“, sagt Warneck. „Und es gilt weiter das Recht am eigenen Bild.“ Ohnehin sei es pikant, dass Familien bei Programmen wie Microsoft Office einsehen könnten, wann eine Lehrkraft eine Hausaufgabe hochgeladen oder korrigiert habe. „Eine Überwachung, Verhaltens- und Leistungskontrolle der Lehrerinnen und Lehrer darf es nicht geben“, warnt Warneck.
„Die Lehrerinnen und Lehrer erhalten unendlich viele E-Mails. Aber es muss auch ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit geben.“
Überhaupt dürfe Digitalisierung nicht zur Entgrenzung der Arbeitszeit führen. „Viele Familien haben in Zeiten des Homeschoolings ein großes Bedürfnis, bei Lehrkräften nachzufragen“, weiß Warneck. „Die Lehrerinnen und Lehrer erhalten unendlich viele E-Mails. Aber es muss auch ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit geben.“ Mails müssten nur zu den Zeiten der normalen Erreichbarkeit in der Schule gelesen werden. Alles darüber hinaus sei freiwillig. „Lehrkräfte dürfen vieles – aber sie müssen nicht alles tun.“ Die Digitalisierung dürfe nicht zu einer versteckten Mehrbelastung führen, weil zusätzliche Arbeitszeiten geleistet werden, die niemand kontrollieren könne. Entscheidend sei, sagt Warneck, dass Personalräte mit den Kultusministerien den Umgang verbindlich in Dienstvereinbarungen regeln – und sich Lehrerinnen und Lehrer bei Fragen und Problemen auch an sie wenden.
* Als Zwei-Faktor-Authentifizierung wird der Identitätsnachweis eines Nutzers mittels der Kombination zweier unterschiedlicher und unabhängiger Komponenten (Faktoren) bezeichnet – zum Beispiel Fingerabdruck plus Zugangscode.