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Bundestagswahl 2021

Weg mit der Gießkanne!

Nachdem sich die Schwachstellen des Schulsystems in der Corona-Pandemie deutlich gezeigt haben, fordert die GEW unter anderem Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel, mehr Investitionen in Gebäude und einen Schub bei der Digitalisierung.

Kinder und Jugendliche, die in ärmeren Kommunen aufwachsen, sind dreifach benachteiligt: Sie leben oft in schlechteren Wohngegenden, lernen in maroden Schulen und leiden unter den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. Schulbildung darf daher in Zukunft nicht mehr wie bisher nach dem Gießkannenprinzip finanziert werden. Die Gelder müssen nach einem Sozialindex verteilt werden. (Foto: mauritius images/Maren Winter/Alamy)

Für die 7. Klasse eines Gymnasiums in Frankfurt am Main war es der dritte Lehrerinnenwechsel in Mathe innerhalb eines Jahres. Schon in normalen Zeiten kein Idealzustand, im Lockdown mit Distanzunterricht aber eine Katastrophe. Die Schülerinnen und Schüler kennen ihre neue Lehrerin nicht von Angesicht zu Angesicht. Auch die junge Pädagogin hat die Kinder noch nie „offline“ gesehen. Sie muss versuchen, sich in Videokonferenzen ein Bild von der Persönlichkeit und vom Leistungsstand der Kinder zu machen. Die Eltern hoffen, dass das Personalkarussell nicht von neuem startet.

Vor allem in MINT-Fächern fehlt Personal

Es hätte die Pandemie nicht gebraucht, um den Fachkräftemangel an den Schulen offenzulegen. Aber die Krise verschärft selbst die Lage an den Gymnasien, die im Vergleich etwa zu Grund- oder Berufsschulen noch ganz gut dastehen. Überall zeigt sich jetzt, dass Personal fehlt, um Distanz- oder Wechselunterricht sinnvoll zu gestalten und Kinder in kleineren Gruppen zu betreuen. Vor allem in den MINT-Fächern (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) mangelt es an Personal. Nach einer Prognose des Bildungswissenschaftlers Klaus Klemm für die Telekom Stiftung werden allein in Nordrhein-Westfalen bis zum Schuljahr 2030/31 in den weiterführenden Schulen zwei Drittel der benötigten Fachlehrerinnen und -lehrer fehlen. Klemm ist überzeugt, dass sich die Untersuchungsergebnisse auf ganz Deutschland übertragen lassen.

Die GEW warnt schon lange vor den Folgen des Personalmangels – nicht nur mit Blick auf bestimmte Fächer, sondern auch wegen des geplanten Rechtsanspruchs auf Ganztag in den Grundschulen ab 2025. Für eine qualitativ hochwertige Ganztagsgrundschule braucht es nach Berechnungen der GEW in den nächsten fünf Jahren mindestens 50.000 zusätzliche Lehrkräfte.

Vor der Bundestagswahl fordert die Gewerkschaft deshalb beim Kampf gegen den Fachkräftemangel eine „nationale Kraftanstrengung“. Zwar könne der Bund nicht direkt in Personal investieren, sagt Ilka Hoffmann, im GEW-Vorstand verantwortlich für den Bereich Schule. „Aber er kann den Kommunen helfen und dafür sorgen, dass die Digitalisierung vorankommt und etwa Systemadministratorinnen und -administratoren die Schulen dauerhaft unterstützen.“

„Länder wie Kanada haben in der Pandemie wieder gezeigt, wie man besser durch Krisen kommt, wenn auch Berufsgruppen wie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder Pflegekräfte an den Schulen mitarbeiten.“ (Ilka Hoffmann)

Mit Hilfe eines Bund-Länder-Kommunen-Programms könnten nach Ansicht der GEW auch multiprofessionelle Teams in den Schulen aufgebaut werden, um allen Kindern gerecht zu werden. Gemeinsam könnten dann Themen in den Blick genommen werden, die in der Corona-Krise immer weiter ins Abseits geraten – etwa die Umsetzung der Inklusion. „Länder wie Kanada haben in der Pandemie wieder gezeigt, wie man besser durch Krisen kommt, wenn auch Berufsgruppen wie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder Pflegekräfte an den Schulen mitarbeiten“, sagt Hoffmann. Dringend nötig ist aus Sicht der Gewerkschaft außerdem, Grundschullehrkräfte sowie Lehrerinnen und Lehrer an weiterführenden Schulen durch eine bessere Bezahlung in allen Bundesländern aufzuwerten.

Geld allein wird den Fachkräftemangel allerdings nicht beheben. Denn das Problem beginnt bei der Ausbildung an den Hochschulen. Zwar ist das Interesse am Lehramt hoch, jedoch bremsen viele Hochschulen die Studieninteressierten mit einem Numerus clausus (NC) aus. Die GEW spricht von einem „hausgemachten Fachkräftemangel“, den vor allem die Länder zu verantworten hätten. Nach einer Expertise des ehemaligen Berliner Bildungsstaatssekretärs Mark Rackles zur Lehrkräftebildung 2021 haben in den vergangenen Jahren nur drei Bundesländer bedarfsdeckend ausgebildet. Zwar erhöhten zehn der 16 Länder mittlerweile die Zahl der Studienplätze. Andere bauten aber Plätze ab. Immerhin hat zum Beispiel Bayern jüngst den NC für das Grundschullehramt aufgehoben, um mehr Studierende auszubilden.

„In einem sozialen Brennpunkt ist die Klassengröße und damit die Lehrkräftezuweisung ein wichtiger Faktor.“

„Der NC muss bundesweit abgeschafft werden“, fordert Hoffmann: „Wir brauchen jetzt eine starke Offensive für neue Studienplätze.“ Gleichzeitig setzt die GEW auch auf gut qualifizierte Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger ins Lehramt, denn ohne diese ist der Fachkräftemangel an den Schulen vorerst nicht zu beheben. „Dafür brauchen wir Qualitätsstandards und ausgebildete Fachkräfte, die diese Kolleginnen und Kollegen betreuen.“ In Berlin etwa, wo mittlerweile jede zweite Lehrkraft quereinsteige, mache man gute Erfahrungen mit Mentoring-Programmen.

Hoffmann ist überzeugt, dass die Einstellungspolitik an den Schulen generell verändert werden müsse, weil sich das Lernen und Lehren weiterentwickelt: „Die Pandemie zeigt, dass es immer mehr Kinder mit Unterstützungsbedarf gibt. In einer Gymnasialklasse mag es vielleicht nicht so entscheidend sein, wie viele Kinder von einer Lehrkraft unterrichtet werden. Aber in einem sozialen Brennpunkt ist die Klassengröße und damit die Lehrkräftezuweisung ein wichtiger Faktor.“

Mehr Chancengleichheit

Die GEW setzt deshalb auf eine flexiblere Steuerung bei der Zuweisung finanzieller und personeller Ressourcen als Hebel für mehr Chancengleichheit. Es dürfe weder vom Wohnort noch vom sozialen Status der Eltern abhängen, welche Bildungsangebote ein Kind bekomme, mahnt die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. Sie schlägt vor, Bundesressourcen nach einem Sozialindex zu verteilen. Das bedeutet: weg von der bisher üblichen Gießkannen-Zuweisung an die Länder nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel. Schulen in ärmeren Kommunen müssten anders behandelt werden als Einrichtungen in prosperierenden Regionen, sagt auch Hoffmann und spricht von einer dreifachen Benachteiligung: „Kinder und Jugendliche in armen Kommunen leben in der Regel in schlechteren Wohngegenden, lernen in maroden Schulen und leiden unter den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen, wie sie die Verfassung vorsieht, sind wir noch weit weg.“

Apropos marode Schulen: Seit Jahren gibt es von München bis Kiel einen Sanierungsstau. In einer Untersuchung für die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bilanzierte das Deutsche Institut für Urbanistik den Investitionsbedarf im vergangenen Jahr auf rund 44,2 Milliarden Euro. Nach Einschätzung der KfW könnte die Corona-Krise für die Schulinfrastruktur und die Digitalisierung zu einer anhaltenden Belastungsprobe werden. Die Kommunen als Schulträger, so das Fazit, brauchten deshalb mehr Unterstützung. Auch Tepe fordert den Bund auf, sich finanziell mehr zu engagieren: „Gute Gebäude und eine gute digitale Versorgung sind nicht über Nacht zu erreichen, notfalls muss man das in einem Zehnjahresplan verbindlich angehen.“

Nachholbedarf bei der Digitalisierung

Vorankommen müssen Bund und Länder auch beim Thema Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte. Die GEW will eine Offensive anstoßen, die sowohl den Umgang mit Diversität als auch die Digitalisierung im Blick hat. Die Corona-Ausnahmesituation zeigt, wie unterschiedlich vorbereitet Lehrerinnen und Lehrer auf den digitalen Wandel sind. Während die eine Lehrkraft regelmäßig Videokonferenzen macht und Feedback übers Lernportal gibt, unterrichtet die andere mit Arbeitsblättern, weil Technik und/oder Know-how fehlen. Schon vor der Pandemie hatten Studien gezeigt, dass es großen Nachholbedarf gibt. So betonte eine Sonderauswertung der PISA-Studie 2018, dass Pädagoginnen und Pädagogen in Deutschland zu wenig Fortbildungsmöglichkeiten hätten. Die Folge: Weniger als 44 Prozent der Schulleitungen hielten ihre Lehrkräfte für kompetent, neue Technologien didaktisch sinnvoll anzuwenden. Im Worst-Case-Szenario heißt das: schlechter Unterricht trotz guter Technik.