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Demokratiebildung

Mitbestimmen, gestalten, Verantwortung übernehmen

„Demokratie in der Krise“, „Politikverdrossenheit bei Jugendlichen wächst“ – so oder ähnlich lauten viele Medienschlagzeilen. Aber stimmen diese Befunde – und was kann Schule tun, um die Demokratie zu stärken? Besuch an einer Schule in Berlin.

Lasst uns zum Sportplatz gehen“, ruft Roberta, „da kann man so wunderbar rennen und auf dem Rasen chillen.“ Schon saust sie los, Karina, Berdan und Ayhan hinterher. Vor der weiten Grasfläche mit den Fußballtoren und hohen Bäumen am Rand hebt Roberta das Tablet hoch in die Luft, macht zwei, drei Bilder. „Wohin jetzt?“ – „Zum Schlupfwinkel“, schlagen Ayhan und Berdan vor. Sie mögen den Jugendclub auf dem Schulgelände mit Billard, Dart und der bequemen Couch. Nach 15 Minuten haben die Schülerinnen und Schüler Fotos ihrer Lieblingsorte auf dem Tablet: Sportplatz, Jugendclub, Spielplatz mit Kletterstrecke. Schnell zurück ins Hauptgebäude. Die anderen Viererteams warten schon. Gleich geht es drinnen weiter mit dem Demokratielabor.

Feiner Nieselregen weht über den alten Backsteinbau der Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule in Berlin-Moabit, am Ufer der Spree. Von der Schullobby ein paar Treppen runter, rechts um die Ecke, zweite Tür links, Raum 031. „Willkommen im Demokratielabor“, steht auf einem weißen Blatt an der Tür. Wo sonst Unterrichtsprojekte der Ganztagsschule stattfinden, bittet heute Jan Vorpahl zur Demokratiebildung. Zum Start hat der Deutsch- und Geschichtslehrer den 20 Jugendlichen die Frage gestellt, um die es in den nächsten zwei Stunden gehen wird: „Wie sieht eure Paradiesschule aus?“ Dann hat er die Neunt- und Zehntklässler in Kleingruppen zur Fotoerkundung geschickt: Welche Orte gefallen euch an der Schule?

Gelebte Demokratie

12.20 Uhr. Noch etwas außer Atem sitzen Roberta, Karina, Berdan, Ayhan und ihre Klassenkameradinnen und -kameraden wieder im Stuhlkreis, die Schul-Tablets voller Bilder auf dem Schoß, und erzählen. „Ich mag die grüne Bank vor der Mensa, dort hat man Ruhe und Abstand von den Lehrkräften“, sagt ein Mädchen. „Mir gefällt die Bibliothek, da kann ich lesen, Karten spielen, mich mit Freunden treffen“, ruft ein anderes. „Ich habe die grüne Ausgangstür fotografiert“, sagt Andro und hält das Tablet hoch. „Da geht es in die Freiheit.“ Vorpahl nickt. „Spannend, und jetzt überlegen wir, wie für euch die ideale Schule aussähe – und was ihr dafür tun könnt, damit sie sich verändert?“

Mitbestimmen, die eigene Umgebung mitgestalten, Verantwortung übernehmen – das ist gelebte Demokratie, im Kleinen wie im Großen. Und darum geht es im Demokratielabor, einem neuen Projekt des Berliner Vereins „Gesicht Zeigen!“, der 2000 gegründet wurde und Workshops, Veranstaltungen, Kampagnen sowie Fortbildungen zur demokratischen Bildung und für ein weltoffenes, tolerantes Deutschland anbietet.

Tests an vier Schulen

„Wir beobachten bei Jugendlichen viel Verdruss an der Demokratie und wollen ihnen Lust und Mut machen, sich zu beteiligen“, sagt Jan Krebs von „Gesicht Zeigen!“. Die Skepsis gegenüber der Demokratie wächst. Nach einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist nur noch die Hälfte der Befragten mit dem politischen System in Deutschland zufrieden. Unter Jugendlichen ist die Unzufriedenheit besonders groß. So bewerteten 2022 in einer vom baden-württembergischen Kultusministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung zwar 88 Prozent der befragten 15- bis 16-Jährigen das demokratische System als gut oder sehr gut, aber nur 47 Prozent zeigten sich als „äußerst“ oder „eher“ zufrieden mit der Demokratie in Deutschland. Landauf, landab versuchen daher Projekte wie das Demokratielabor, die demokratische Bildung schon bei Kindern und Jugendlichen zu stärken.

Seit April 2023 ist das Labor zunächst testhalber in vier Schulen in Berlin, Brandenburg und Bayern am Start. Konkret besteht das Labor aus einem Rollwagen und einem mobilen Schubladenschränkchen. „Eine Fundgrube voller Anregungen“, sagt Vorpahl und zieht den Regalschrank in die Raummitte. „Was heißt Verantwortung?“, steht auf den Türen der Fächer oder „Wo kann ich mitbestimmen?“. In einem der Fächer befindet sich das Spiel Snackcheck, in dem man Pausensnacks nach geheimen Gruppenregeln tauschen kann. Wer von Gruppe zu Gruppe wechselt, entdeckt, wie schwer es ist, die unsichtbaren Gesetze einer fremden Gemeinschaft zu decodieren.

„Es schult unglaublich, wenn die Jugendlichen sich in einem geschützten Raum ausprobieren können.“ (Jan Vorpahl)

In einem anderen Fach liegt eine Plexiglaskugel mit Lottobällen. Damit kann man spielerisch erkunden, wie es wäre, Klassensprecherinnen und -sprecher auszulosen. Was würde das verändern? Was spricht dafür zu wählen? Nach welchen Kriterien wählen die Kinder und Jugendlichen? Ist es sinnvoll, dass die lautesten Schülerinnen und Schüler Sprecherin bzw. Sprecher werden? Braucht es neben jenen, die Anliegen durchboxen können, nicht die anderen, die zuhören und vermitteln?

Gleich zum Start des Demokratielabors im Frühjahr hat Vorpahl aus der Trolley-Schublade den Stecksatz „Theater“ herausgefischt und in der Raumecke aufgebaut. Violette Samtvorhänge, buntes Faltbühnenbild, Redepult. Schülerinnen und Schüler haben hier Wahlreden und Auftritte im Sprecherrat geübt. Vorpahl: „Es schult unglaublich, wenn die Jugendlichen sich in einem geschützten Raum ausprobieren können.“

Praktisch, einfach, konkret

12.45 Uhr. Das Demokratielabor geht in die zweite Runde. „So, Leute“, sagt Vorpahl, „seid ihr jetzt bereit, euch in die Zukunft zu träumen?“ Ratloses Kichern, Brummeln, Knuff in die Seite des Nachbarn. „Ey, Digga, hast du Ideen?“ Vorpahl senkt die Stimme. „Psst, schließt die Augen. Es ist Zeit für eine kleine Traumreise.“ Es sind auch solche überraschenden Tools, die das Demokratielabor besonders machen. Die Traumreise, von Vorpahl in ruhigem Ton vorgelesen, nimmt die Jugendlichen mit auf einen Gedankenausflug über den Schulhof, durch das Gebäude, zu Gemeinschafts-, Pausen- und Unterrichtssituationen, die sie sich dabei so ausmalen können, wie sie es in ihrer individuellen idealen Welt gerne hätten. Fast automatisch kommen allen danach Ideen: Schule sollte später anfangen und früher aufhören; die Klassen müssten kleiner, Gemeinschaftsecken und Grünflächen mehr werden; das Essen besser, freie Fächerwahl erlaubt und die gemeinsame Zeit ohne Lernen an der Schule ausgeweitet werden.

„Sie müssen erleben, dass es auch anders geht.“

Aber sind das nicht Träume – fernab jeder Realität? Vorpahl seufzt, für ihn ist das der Knackpunkt bei dem Thema Demokratiebildung: „Es gibt hier viel Schulterzucken, die meisten haben das Gefühl, eh nichts verändern zu können. Weder an ihrer Schule noch sonst in ihrem Umfeld. Sie müssen erleben, dass es auch anders geht.“ Der Lehrer hat daher 2022 den Start der demokratischen Schulentwicklung an der Heinrich-von-Stephan-Schule mit angeschoben. Mitbestimmung im Schulalltag soll praktisch sein, einfach, konkret.

Im ersten Stock hängt nun zum Beispiel ein großes Mach-mit-Board an der Wand. Schülerinnen und Schüler können hier Ideen für die Schule anpinnen, Mitstreiterinnen und Mitstreiter suchen, Umsetzung und Erfolg dokumentieren, von der Koch-AG bis zur Talentshow. Sie sollen erfahren, dass sich auf solche Weise andere mobilisieren lassen und alle gemeinsam etwas verändern können. Im Herbst werden Workshops mit Eltern, Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften starten, in denen es darum geht, wie alle gemeinsam Schule besser machen können. Vorpahl: „Es braucht solche Strukturen, damit ein Angebot wie das Demokratielabor tatsächlich verfängt.“

Eltern und Lehrkräfte ins Boot holen

Los, genug geträumt, Zeit fürs Tun. In Raum 031 startet Vorpahl den Beamer. Bilder von Schulen aus aller Welt ploppen auf, die aussehen wie Kugeln, poppige Museen oder Landschaften aus Baumhäusern. Der Lehrer wendet sich an die Schülerinnen und Schüler: „Jetzt seid ihr die Architekten eurer Traumschule. Überlegt, welche Elemente eurer Paradiesschule umsetzbar wären – und baut ein Modell.“

Eierpackungen, Scheren, Lego machen die Runde. Karina und Berdan basteln Pappkarten mit ihren Ideen, Ayhan baut eine große Mensa aus Lego dazu, Roberta malt den Grundriss einer Schule mit Blumenwiesen und Sitzarealen. „Es macht Spaß, mal darüber nachzudenken, wie es hier sein könnte“, sagt Roberta. „Ich würde gern noch viel mehr über Demokratie diskutieren. Welchen Einfluss haben zum Beispiel arme Menschen in unserer Gesellschaft?“ Roberta: „Und was wissen wir schon über die Ziele der Parteien?“ Berdan wünscht sich mehr Mitbestimmung: „Ich finde es gut, wenn wir gefragt werden.“

„Denn was ist wichtiger, als dass Schülerinnen und Schüler unsere Demokratie verstehen und mitgestalten lernen?“ 

14 Uhr, es klingelt. Die Jugendlichen packen die Bastelsachen weg, schnappen Taschen und Jacken. Vorpahl ist zufrieden. Er ist zum vierten Mal mit seiner Klasse im Labor. Der spielerische Zugang zur Demokratie komme bei vielen gut an, gerade bei jenen, die mit Debatten ansonsten nicht viel anfangen könnten, sagt der Lehrer. Auch im Kollegium sei die Offenheit groß, 25 Lehrkräfte hätten an der Einführungsfortbildung von „Gesicht Zeigen!“ teilgenommen, berichtet er. Bislang haben elf Klassen der Schule das Labor besucht. „Wenn es sich nach der Testphase hier einmal dauerhaft etabliert, sind mehr dabei“, ist sich Vorpahl sicher. „Es lohnt sich. Denn was ist wichtiger, als dass Schülerinnen und Schüler unsere Demokratie verstehen und mitgestalten lernen?“