Heinrich-Wolgast-Preis 2023
„Mir fehlten Habitus und Zugänge“
Für ihre Graphic Novel „scheiblettenkind“ erhält Eva Müller den Heinrich-Wolgast-Preis 2023 der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW. Im E&W-Interview spricht sie über ihren Weg aus dem Arbeitermilieu ihrer Familie.
- E&W: Wie sind Sie auf die Idee für dieses Buch -gekommen? Und warum heißt der Band „scheiblettenkind“?
Eva Müller: Das ist ein Schimpfwort für ärmere Kinder, das ich mir ausgedacht habe. Scheiblettenkäse ist dieser billige, in Plastik eingepackte Käse, so ein Arme-Leute-Essen. Meine Graphic Novel ist Autofiktion: Ich habe auch viel hinzuerfunden. Aber grundsätzlich gehe ich bei meinen Arbeiten fast immer von mir selbst aus, weil ich meine Lebenswelten und meine Biografie einfach am besten kenne. Von da aus erzähle ich dann weiter.
- E&W: Am Beispiel Ihrer Familiengeschichte malen Sie ein generationenübergreifendes Bild von Arbeitswelten im Wandel der Zeit. Was hat Sie bei der Recherche und dann bei der Umsetzung besonders bewegt?
Müller: Vor allem die Geschichten meiner Großmütter, die eine bäuerliche Herkunft hatten und denen ich sehr nah war. Beide sind inzwischen gestorben, darum hat mich das persönlich sehr berührt. Es war mir wichtig, das aufzuschreiben und aufzuzeichnen.
- E&W: Die Jury lobt Ihre kraftvolle Beschreibung der aus Ihrer Familiengeschichte errungenen Selbst-bestimmung. Der Drang nach Unabhängigkeit hinterlasse im Hinblick auf die eigene Erwerbstätigkeit einen eindrucksvollen Nachhall, heißt es in der Begründung. Wie steinig war der Weg aus dem Arbeitermilieu Ihrer Herkunftsfamilie in die Emanzipation als Künstlerin?
Müller: Auf vielen Ebenen war das sehr schwierig, weil einfach der Habitus und die Zugänge fehlten. Außerdem das Selbstbewusstsein, Räume zu betreten – auch im übertragenen Sinn. Andererseits habe ich in meinem Aufwachsen und in meinem Umfeld auch viel gelernt, was Community angeht, was Gemeinsamkeit und Zusammenhalt bedeuten. Das habe ich mitgenommen. Und was ich auch mitgenommen habe, ist eine einfache Sprache, eine direkte Kommunikation. Ich habe den Eindruck, dass das als erfrischend empfunden wird und mir auch Türen geöffnet hat. Darum ist das so ein bisschen ambivalent.
- E&W: Würden Sie sagen, dass Ihnen bestimmte Türen bis heute verschlossen geblieben sind?
Müller: Nein, mir persönlich nicht. Weil ich die immer aufgestoßen habe. Und weil ich viel Glück und Unterstützung hatte. Manchmal haben Zufälle dazu geführt, dass sich Türen öffneten. Ich glaube aber nicht, dass das bei jedem so passiert. Und das liegt dann nicht am Individuum, sondern schon an den Umständen, an den Strukturen. Das war eher eine Zufallsgeschichte, dass mir dieser Aufstieg möglich war.
- E&W: Haben Sie „scheiblettenkind“ gezielt für -Kinder und Jugendliche geschrieben?
Müller: Das war nicht meine Intention, ich habe es stilistisch nicht danach ausgerichtet. Aber es wird in dem Alter sehr gut aufgenommen und rezipiert. Jugendliche können da gut andocken, darum ist das schon ein wichtiger Punkt.
- E&W: Was können junge Menschen daraus mitnehmen?
Müller: Eine Sensibilität und ein Bewusstsein dafür, dass es unterschiedliche Lebensrealitäten gibt. Dass es Menschen gibt, die aus anderen Verhältnissen kommen. Dass nicht jede Person gleich aufwächst. Und für Kinder, die ähnlich aufwachsen und einen ähnlichen Weg gehen wie ich, kann es ein gewisses Identifikationsmoment haben. Vielleicht kann es auch eine kleine Hilfe und ein Mutmacher sein, das würde mich jedenfalls freuen.
Mit dem nach dem Reformpädagogen Heinrich Wolgast (1860–1920) benannten Preis zeichnet die Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW Kinder- und Jugendliteratur aus, die sich in beispielhafter Weise mit Erscheinungen und Problemen der Arbeitswelt befasst. Der 1986 vom Bildungs- und Förderungswerk (BFW) der GEW gestiftete Preis ist mit 2.000 Euro dotiert und wird seit 2015 alle zwei Jahre verliehen. |