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Radikalisierung durch Verschwörungserzählungen

Mehr als Tausend Worte

Islamisten agitieren erfolgreich im Netz – mit professionell aufbereiteten Inhalten, die auf ein jugendliches Publikum abzielen und zutiefst antidemokratisch sind.

Islamistische Gruppierungen wie der Islamische Staat versuchen, Jugendliche im Internet anzuwerben. (Foto: IMAGO/Ralph Peters)

Ein Video bei TikTok, der kurze Streifen hat einige tausend Likes: „Wir Muslime werden immer wieder gefragt, was sagen Sie zur Demokratie?“, fragt ein Mann mit rotem Fusselbart. „Ich sage: Dieses Buch, der Koran, ist für mich wichtiger als der ganze Planet Erde. Und jeder Muslim sollte sagen: Dieses Buch ist für mich wichtiger als alles auf der Welt.“

Der Mann, der diese Sätze spricht, sagt „für misch wischtiger“ und ist der aus dem rheinischen Frechen stammende Konvertit Pierre Vogel. Er wendet sich mit Sprache und Habitus an ein junges Publikum. Und erfüllt mit vielen seiner Aussagen die Kriterien, die -jugendschutz.net in der Studie „Islamismus im Netz“ heranzieht, wenn Inhalte als „islamistisch“ benannt werden. Die vom Bundesfamilienministerium geförderte Institution fordert dann die Betreiber auf, diese Inhalte zu löschen.

„Indikatoren, bei denen wir genauer hinsehen, sind eine ablehnende Haltung zur Demokratie oder Verabsolutierungstendenzen.“ (Bernd Zywietz)

„Indikatoren, bei denen wir genauer hinsehen, sind eine ablehnende Haltung zur Demokratie oder Verabsolutierungstendenzen“, erläutert Bernd Zywietz, Leiter des Bereichs Politischer Extremismus bei jugendschutz.net und einer der Verfasser der Studie, „wenn also so getan wird, als sei der Islam per se unvereinbar mit Deutschland oder einer Demokratie.“

Im Beobachtungszeitraum von Januar 2021 bis Juli 2022 wurden 557 Verstoßfälle registriert – 90 Prozent davon bei Instagram. Es folgen YouTube, Twitter, TikTok, Pinterest und Facebook, aber auch Alternativplattformen wie Telegram. Die Macher der Seiten schauen sich dabei die Erfolgsrezepte trendiger Influencer ab und widmen sie für ihre Zwecke um. Das strategische Ziel ist dabei, die klassischen Medien zu delegitimieren, um die Jugendlichen auf die eigenen Kanäle bei Instagram und Telegram zu locken, wo sie unbehelligter indoktriniert werden können.

Irrationale Ideologie um rationalen Kern

In den Beobachtungszeitraum fiel auch der russische Überfall auf die Ukraine. Der Krieg zwischen zwei „Kuffar“, also „falsch-gläubigen Völkern“, hatte insofern Auswirkungen auf die islamistische Propaganda, als er als Beleg für die These herhalten musste, dass der Westen in der Menschenrechtsfrage mit zweierlei Maß messe. Das beweise, so der Tenor auf den von der Studie untersuchten Seiten, die Besserstellung ukrainischer Geflüchteter gegenüber solchen aus muslimischen Staaten.

Dieses „Opfernarrativ“ sieht die muslimische Community als Opfer eines hegemonialen Westens, dem eine Doppelmoral attestiert wird. Noch heute werden deshalb auch die von der US-Regierung erfundenen Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein, die zur Legitimierung des dritten Golf-Krieges 2003 herhielten, in Videos genannt, um dem Westen einen auf Lügen basierenden Krieg gegen Muslime zu unterstellen.

„Die religiöse Radikalisierung kann auch ein Mittel sein, um gegen ein meistens religiös moderateres Elternhaus zu rebellieren. Das ist ähnlich wie bei jungen Rechtsradikalen aus einem linksliberalen Haushalt.“

Und fatalerweise, so Zywietz, sei extremistische Propaganda wirksamer, wenn sie einen rationalen Kern beinhalte, um den sich eine irrationale und antihumanistische Ideologie weben lasse. Und tatsächlich muss man ja weder Muslim noch Islamist sein, um die Menschenrechtsorientierung der westlichen Welt als widersprüchlich oder heuchlerisch zu empfinden. Jugendliche entwickelten seit jeher in der Phase ihrer Politisierung einen „heiligen Zorn“ angesichts objektiver Ungerechtigkeiten, mit denen sich die Welt der Erwachsenen arrangiert zu haben scheint, sagt Zywietz. „Die religiöse Radikalisierung kann auch ein Mittel sein, um gegen ein meistens religiös moderateres Elternhaus zu rebellieren. Das ist ähnlich wie bei jungen Rechtsradikalen aus einem linksliberalen Haushalt.“

Auch Mädchen werden in ihrer Selbstfindungsphase angesprochen, beispielsweise, um ihnen einzutrichtern, dass Verschleierung „halal“, also dem Propheten wohlgefällig sei. Mehr als tausend Worte – eine im Netz schier unvorstellbare Menge an Text – wirken auch hier Memes und Share Pics: In diesem Fall ein Bild, das zwei Lollys zeigt, einen ebenso geheimnisvoll-verheißend wie hygienisch einwandfrei umwickelten. Und einen unverpackten, mit Dreck bedeckten und von Fliegen umschwirrten. „Bei Themen wie Queerfeindlichkeit oder Geschlechterrollen geben sich Rechtsradikale und Salafisten die Klinke in die Hand“, betont Zywietz. „Und sie legitimieren sich wechselseitig als Feindbild: Da wird der NS-Skinhead als stellvertretend für die Deutschen dargestellt – und umgekehrt der IS-Attentäter als typischer Muslim.“