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Protestaktion am 4. Juli in Berlin

„Jugendhilfe im Kollaps“

Sie sollen jungen Menschen in Not helfen – und sind doch selbst in Not. Mehrere hundert Mitarbeitende in Jugendämtern und bei freien Trägern demonstrierten in Berlin für eine bessere Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe.

Die Presseberichte, zwischen zwei Masten befestigt, reichten über 20 Meter, in DIN A 4. Seit Jahren berichten Zeitungen über „Unhaltbare Zustände“, bereits 2018 hieß  es: „Alarmstufe Rot im Jugendamt“. Weil sich die Lage nicht  verbessert, sondern aus Sicht vieler verschlechtert hat, zogen sie am 4. Juli vor die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie.

Aufgerufen unter dem Motto „Jugendhilfe im Kollaps - wir fordern Taten statt Worte“ hatten der Deutsche Berufsverband für soziale Arbeit, Landesverband Berlin (DBSH), die AG Weiße Fahnen, die sich vor allem aus den Jugendämtern rekrutiert, und die GEW Berlin.

300 Mitarbeitende protestierten

Rund 300 Mitarbeitende in Jugendämtern und bei freien Trägern kamen: mit Trillerpfeifen, Transparenten und jeder Menge anonymer Aussagen von Kindern und Jugendlichen, für die sie sich verantwortlich fühlen – denen sie aber, das wurde vor Ort deutlich, zu den derzeitigen Bedingungen kaum noch helfen können.

„Papa trinkt jeden Tag drei Bier und wird dann sehr wütend.“

Auf Silhouetten von Kinderkörpern, aus Papier ausgeschnitten, hatten sie Geschichten geschrieben: „Sie sagen, ich bin gewalttätig“, stand dort, oder „Papa trinkt jeden Tag drei Bier und wird dann sehr wütend.“ Auch von Kindern, die statt der vorgesehenen drei Tage vier Monate in den Räumen des Kindernotdienstes verbleiben mussten, war zu lesen.

Alarmierende Zustände

In der Not-Auffangeinrichtung, die greift, wenn die Jugendämter geschlossen haben, hat sich die Lage so zugespitzt, dass die Mitarbeitenden im Juni in einem Brandbrief an Berlins Regierenden Bürgermeister Kai Wegner und Familiensenatorin Katharina Günther-Wünsch (beide CDU) alarmierende Zustände schilderten. Neun Betreuende hätten mehr als 1.000 Überstunden angesammelt, der Notdienst stehe wegen struktureller Überlastungen vor dem Zusammenbruch. Das Kindeswohl könne nicht mehr gewährleistet werden.

Akute Missstände im Jugendhilfesystem

„Seit mehr als zehn Jahren machen wir auf akute Missstände im Berliner Jugendhilfesystem aufmerksam“, rief Verena Bieler, Zweite Vorsitzende des DBSH Berlin, den Demonstrierenden zu – durch die Pandemie habe sich die Lage weiter zugespitzt: „Viele von uns können schlicht ihren gesetzlichen Auftrag nicht mehr erfüllen.“ Die Politik sei gehalten, die Realität der Betroffenen endlich ernst zu nehmen: „Wir fordern Sofortmaßnahmen, spätestens bis zu unserem selbst organisierten Jugendhilfegipfel im Herbst.“

Am 10. Oktober wollen die Aktiven die Kinder- und Jugendhilfe einmal nicht unter dem Primat der „Jugendgewalt“ betrachten – zu der es seitens der Berliner Landesregierung nach den jüngsten Ausschreitungen zu Silvester sehr schnell ein „Gipfeltreffen“ gegeben hatte.

„Personal aufstocken, Tariflöhne zahlen – beides sind überfällige Schritte.“ (Fabian Schmidt)

„Kinder und Jugendliche nur unter den Stichworten Gewalt und Delinquenz zu behandeln, geht gar nicht“ sagte Fabian Schmidt, Sozialarbeiter und Vorstandsmitglied für Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit der GEW Berlin. Der gesamte Bereich der Jugendhilfe werde seit Jahren vernachlässigt; personell wie finanziell: „Personal aufstocken, Tariflöhne zahlen – beides sind überfällige Schritte.“

Die GEW Berlin fordert Tariftreue bei freien Trägern, die durch öffentliche Mittel finanziert werden, sowie eine Gleichstellung an das Niveau des Tarifvertrags der Länder. Fabian Schmidt machte auch klar, dass es nicht darum geht, um Hilfe zu bitten: „Wir kommen wieder. So lange, bis die Jugendhilfe stabilisiert ist.“