Fachkräftemangel in Schule, Kita, Jugendhilfe und Hochschule
„Wir machen nur noch Feuerwehr“
Hohe Überlastung, keine angemessene Bezahlung, fehlende Räume: Die schlechten Arbeitsbedingungen in der Berliner Jugendhilfe führen dazu, dass in den Regionalen Sozialpädagogischen Diensten (RSD) rund 100 Stellen nicht besetzt sind.
An einem stressigen Tag – und vor der Corona-Krise – haben die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter des RSD Wedding schon mal fünf Hausbesuche bei Problemfamilien gemacht. Fast jeder in ihrem Team sei für 80 bis 90 Fälle bzw. Familien zuständig, sagt Leiterin Heike Schlizio-Jahnke. „Da weiß man manchmal gar nicht mehr, wie alle Kinder heißen. Steht eine Familie spontan vor der Tür, muss ich erst in die Akte schauen.“ Präventionsarbeit findet kaum noch statt: „Wir machen nur noch Feuerwehr.“
Der RSD Wedding stehe dabei im Vergleich zu anderen Bezirken noch gut da, und ihr Team sei hochmotiviert, sagt Schlizio-Jahnke. Ständige Überlastung kennt aber auch sie. „Ich weiß nicht, wie viele Leute wir haben müssten, um die Arbeit unter Einhaltung der Standards zu schaffen – aber mindestens zehn Stellen mehr müssten es sein.“
Ronny Fehler, Referent für Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit bei der GEW Berlin, rechnete aus: 2018 habe es 14.852 Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung gegeben. Damit habe theoretisch jede Sozialarbeiterin für die Bewertung eines Falles 2,3 Stunden Zeit gehabt – und das sei nur ein kleiner Teil des Aufgabenbereiches.
Seit Jahren kritisieren Beschäftigte den Personalmangel in den Jugendämtern und schlossen sich zur AG Weiße Fahnen zusammen, in der auch Schlizio-Jahnke aktiv ist. 2012 hissten sie erstmals die weiße Fahne, um zu zeigen: Wir kapitulieren. Zwar habe es seitdem zusätzliche Stellen gegeben, auch für ein Kinderschutzteam, „aber das hat die ständig wachsende Stadt sofort wieder geschluckt“, sagt Schlizio-Jahnke. Zugleich verschärften sich die Probleme: Immer mehr Familien sind arm und finden keine bezahlbare Wohnung, immer mehr Eltern leiden an psychischen Erkrankungen.
„Es wird nicht gesehen, was wir tun. Wir sind die Bösen, die den Familien die Kinder wegnehmen.“ (Schlizio-Jahnke)
Zu den Folgen des Notstands zählt auch: Mehr Kinder werden direkt in Obhut genommen, statt erst zu prüfen, wie Eltern unterstützt werden können. „Gerade junge Kolleginnen und Kollegen sind da oft unsicher“, sagt Schlizio-Jahnke. Aber auch erfahrene Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter halten dem Druck nicht immer stand, werden krank oder kündigen. Björn Köhler, GEW-Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit, fordert Unterstützung und Entlastung auch für die RSD-Beschäftigten, etwa durch Fachberatungen und Supervision.
Gründe für den Personalmangel kann Schlizio-Jahnke derweil viele weitere aufzählen: Immer mehr Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben lassen das Pensum weiter steigen. Die Beschäftigten arbeiten oft beengt, es fehlen Räume für Krisengespräche, mehrere Mitarbeiter teilen sich einen Laptop. Hinzu kommt die mangelnde Wertschätzung: „Es wird nicht gesehen, was wir tun. Wir sind die Bösen, die den Familien die Kinder wegnehmen.“
Mindestens 110 offene Stellen
Viele Jahre verdienten Sozialarbeiter in Berlin zudem weniger Geld als etwa in Brandenburg oder Hamburg. Seit 2019 ist die Vergütung durch die neue S-Tabelle zum Tarifvertrag der Länder (TV-L) angeglichen. „Der große Wurf war das aber noch nicht“, sagt Fehler. So erhalten Sozialarbeiterinnen und -arbeiter mit sogenannter Garantenstellung, die mit strafrechtlicher Verantwortlichkeit eine Kindeswohlgefährdung erkennen und das Kind in Obhut nehmen müssen, in der untersten Erfahrungsstufe derzeit 3.368 Euro und in der höchsten Erfahrungsstufe 4.804 Euro brutto. Für Fachkräfte ohne Garantenpflichten beträgt das Gehalt in der untersten Erfahrungsstufe 3.181 Euro und kann bis auf 4.617 Euro brutto steigen.
Eine bessere Bezahlung durchzusetzen, sei nicht einfach, räumt Fehler ein. Bei den RSD arbeiteten 900 Beschäftigte, diese kleine Gruppe werde in Tarifrunden weniger sichtbar. Die GEW Berlin will sich daher dafür einsetzen, dass das Land die Tätigkeiten im RSD neu bewertet und die Beschäftigten über eine eigene Regelung neu eingruppiert.
Beschäftigten und Gewerkschaft geht es aber auch um bessere Arbeitsbedingungen, vor allem um die Begrenzung der Fallzahlen. Die GEW Berlin forderte ein Limit von 30 pro Sozialarbeiter. 2014 beschloss der Senat einen Maßnahmeplan, der eine Fallzahl von maximal 65 nennt. Das Eckpunktepapier habe aber keine Verbindlichkeit und diene nur der Personalberechnung für die Jugendämter, sagt Fehler. Anfang 2020 ging diese Kalkulation so: Bei einem Verhältnis von 1:68 finanziert das Land 900 Vollzeitstellen. Von denen waren allerdings nur 790 besetzt. Da nicht jeder Vollzeit arbeiten will, fehlen vermutlich sogar mehr als 110 Fachkräfte.
Senat und Bezirke uneins
Schon die Definition von Fall und Fallzahlen ist kompliziert – und zwischen Senat und den Bezirken umstritten: „Wenn bei uns eine Frau klingelt und um Beratung bittet, weil der Kindsvater keinen Unterhalt zahlt – ist das dann schon ein Fall?“, erläutert Schlizio-Jahnke das Problem. Nur, wenn sich die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie und die Jugendamtsleitungen hier festlegen, lässt sich daraus recht genau die Zahl der erforderlichen Stellen ableiten. Und die müsste dann der Senat finanzieren. Auch auf eine Ausführungsvorschrift, die Standards mit Blick auf Personal und Ausstattung definiert, und die die AG Weiße Fahnen und die GEW Berlin ebenfalls seit Jahren fordern, konnten sich Senat und Bezirke bisher nicht einigen – wohl aus ähnlichem Grund.
Die schlechten Arbeitsbedingungen sprächen sich bei Studierenden herum, so dass nach dem Abschluss kaum jemand im RSD anfangen wolle, sagt Fehler. Den erfahrenen Kräften fehle zudem meist die Zeit, neue Kolleginnen und Kollegen einzuarbeiten. „Die werden ins kalte Wasser geschmissen und sind dann oft schnell wieder weg.“
„Man braucht Menschen mit einer gewissen Lebens- und Berufserfahrung, die einschätzen können, wann welches Eingreifen erforderlich ist. Das ist schwierig für Einsteiger.“ (Björn Köhler)
Was sich in Berlin abspielt, gilt auch für andere Großstädte. „Wir haben nicht nur einen Personal-, sondern auch einen Fachkräftemangel“, betont Köhler. Zwar stiegen die Absolventenzahlen, und es gebe immer mehr Studiengänge, die in Berufe der Sozialen Arbeit führten. „Aber die Bedarfe der Gesellschaft sind damit immer noch nicht gedeckt.“
Auch Köhler hält die Lücke zwischen Vergütung sowie Verantwortung und Belastung für zu groß – vor allem für Beschäftigte, die Kinderschutzfälle bearbeiteten und im Zweifel haftbar gemacht werden könnten. Generell gelte: „Man braucht Menschen mit einer gewissen Lebens- und Berufserfahrung, die einschätzen können, wann welches Eingreifen erforderlich ist. Das ist schwierig für Einsteiger.“ Zudem werde man viel mit Leid, gerade von Kindern, konfrontiert. „Damit muss man umgehen können und einen persönlichen Ausgleich haben.“