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Keine Demokratie ohne Demokratiebildung

Inhalierte Demokratie

An einer Grundschule in Bremerhaven dürfen schon die Kleinsten mitbestimmen. Die Erst- bis Viertklässler lernen gemeinsam, können die Inhalte beeinflussen und in Gremien mitentscheiden.

Foto: Eckhard Stengel

Demokratie an der Grundschule? „Geht gaaaar nicht!“ Das bekam die Leiterin der Marktschule in Bremerhaven-Lehe, Ute Mittrowann (63), manchmal zu hören, als ihre Schule genau das einführen wollte: Mitbestimmung schon für die Kleinen. Dass so etwas doch geht, beweisen zwei Dutzend Kinder, die sich allmonatlich zum Schülerrat treffen, so wie an diesem Freitag.

„Dann legen wir mal los“, sagt Mittrowann. Sie sitzt an der Spitze eines Konferenztisch-Ovals im sogenannten Mitarbeiterraum. Früher nannte man solche Räume schlicht „Lehrerzimmer“, und sie waren üblicherweise eine No-Go-Area für Kinder. Aber jetzt versammeln sich hier zwei Sprecher aus jedem Klassenverband, meist ein Mädchen und ein Junge, außerdem der Hausmeister und die Schulsozialarbeiterin.

Seit 2006 ist der Schülerrat eine feste Institution an der Marktschule. Aber das ist hier nicht das einzige Ungewöhnliche. Schon 2003 wurden die üblichen Klassen abgeschafft. Seitdem sitzen die Kinder von Stufe 1 bis 4 jahrgangsübergreifend in sogenannten Klassenfamilien (KF). Wer schnell lernt, kann schon nach drei Jahren auf die weiterführende Schule wechseln; wer etwas mehr Zeit braucht, bleibt eben fünf Jahre lang in der vertrauten KF.

Eisbär oder Polarfuchs?

Im Schülerrat geht es heute um einen Dauerbrenner: Damit sich die zwölf Klassenfamilien besser auseinanderhalten lassen, sollen sie jeweils Tiernamen bekommen – gefällige Namen, die „gleichwertig und nicht langweilig“ sein sollen, wie Sitzungsleiterin Mittrowann sagt. Schon seit Herbst 2018 wird darüber diskutiert: in den Klassenfamilien, im Schülerrat, auf der Schulkonferenz, auf Elternversammlungen. Bisher steht nur fest: Namensgeber sollen Tiere sein, die in und an der Nordsee leben. 20 stehen zur Auswahl, darunter auch „KF Qualle“ oder „KF Seepocke“. Geht gaaaar nicht, finden die Kinder. „Solch einen Namen wollen wir als KF auf keinen Fall erhalten!!!“, hat eine Klassenfamilie zu Papier gebracht. Denn das wäre diskriminierend.

Eisbär oder Polarfuchs – das wäre was! Sind nur leider keine Nordsee-Anrainer. Fast eine halbe Stunde lang wird diskutiert. Wer sich meldet, wartet geduldig, bis er oder sie an die Reihe kommt. Am Ende schlägt Rektorin Mittrowann vor, den Tier-Kreis auf alle Meere auszuweiten. Dann hätten auch Eisbär und Polarfuchs eine Chance. „Okay? Gebongt?“, fragt Mittrowann, und niemand widerspricht. Eine AG, für die sich sofort etliche Klassensprecher und -sprecherinnen melden, soll eine neue Vorschlagsliste erarbeiten, die dann wieder durch die Instanzen geht: Klassenräte, Schülerrat, Schulkonferenz, Elternrat.

Wer stört, fliegt raus

Nach dem Schülerrat trifft sich der Klassenrat der KF von Lehrerin Carmen Lamann (26), so wie jeden Freitag. Klassensprecherin Noria (8) schlägt eine Klangschale an. Sofort ist es ruhig. Noria und ihr Ko-Sprecher Tetsuro (10) leiten die Sitzung gemeinsam – mit ziemlicher Strenge. „Melde dich, wenn du was hast“, ermahnt Noria Zwischenrufer. Wenn jemand abschweift, sagt Tetsuro: „Das ist jetzt nicht das Thema.“ Wer stört, fliegt sogar raus, jedenfalls für ein paar Minuten. Die Reihen lichten sich schnell, denn heute ist es sehr unruhig. Aber als Tetsuro über die Schülerrat-Diskussion zum Namensstreit berichtet, da sind die meisten konzentriert dabei. Nach 40 Minuten geht es dann mit dem normalen Unterricht weiter.

Aber was heißt an der Marktschule schon „normal“. Hier ist manches anders als in herkömmlichen Grundschulen, und das hat ihr auch schon den zweiten Preis beim Deutschen Schulpreiswettbewerb 2011 eingebracht. In der Laudatio hieß es damals: „‚Kein Kind zurücklassen‘ ist ein hoher Anspruch in einer Region, in der viele Eltern arbeitslos sind und Kinderarmut nahezu Alltag ist. Die Marktschule stellt sich dieser Herausforderung.“

Die Großen helfen den Kleinen

265 Kinder aus 30 Sprach- und Kulturkreisen: So bunt ist die Schülerschaft. Und vielseitig ist auch der Unterricht der 25 Lehrkräfte. Die Kinder können bei ihnen mitbestimmen, mit welchen Themen sie sich gerade beschäftigen wollen. „Da gibt es natürlich keine freie Auswahl“, sagt Mittrowann. „Wir müssen uns ja ans Curriculum halten.“ Doch wenn zum Beispiel ein Kind besonders gut mit einem Zauberwürfel umgehen kann, bietet es ein „Lernbüro“ an und bringt dabei seine Tricks den anderen bei. Und wer bei der Wochenplanarbeit gerade eine Geschichte geschrieben hat, kann eine „Schreibkonferenz“ ausrufen: Dann setzen sich einzelne andere Kinder mit ihm oder ihr an einen separaten Tisch, geben stilistische Tipps und korrigieren Schreibfehler. In solchen Fällen ist die Altersmischung besonders hilfreich. Die Fortgeschrittenen unterstützen die Anfänger, übernehmen Verantwortung und werden dadurch selbstbewusster.

Dass Kleinere und Größere gemeinsam lernen, hilft nicht nur bei der Stoffvermittlung, sondern auch beim Einüben der alltäglichen Regeln und Abläufe. So erfahren die Jüngsten quasi nebenbei, wie der Klassenrat funktioniert. In einer reinen Anfängerklasse, meint Mittrowann, ließe sich Mitbestimmung wohl nur in kleinen Schritten einführen. Aber in den altersgemischten Gruppen erleben die Kleinen gleich das volle Programm. „Sie inhalieren das“, sagt die Rektorin. „Sie trauen sich nach und nach mehr zu.“ Als Chefin der Schule hat die 63-Jährige im Zweifelsfall das letzte Wort. Doch zumindest innerhalb des gesetzlichen Rahmens versucht sie, auch im Kollegium so viel Demokratie wie möglich zu praktizieren.

Das bestätigt auch Klassenleiterin Jana Hollmann (29). Was sie sich aber noch wünscht: „mehr Personal, mit hundert Ausrufezeichen!“ In jeder Stunde Doppelbesetzung – „das wäre ein Traum.“ In den altersgemischten Klassen allen gerecht zu werden: „Diesen Spagat zu schaffen, das ist schon schwierig.“ Vor allem ganz allein mit 22 Kindern. Auf jeden Fall findet Hollmann es „superschön, wie die Kleinen untereinander lernen“. Und „toll, dass sie mitbestimmen können“.

„Sie merken, dass sie etwas erreichen können. Sie hinterfragen und diskutieren, sie lernen demokratische Strukturen kennen.“ (Ute Mittrowann)

Als die Marktschule 2003 die Klassenfamilien einführte, waren nicht alle Lehrkräfte davon angetan. Es war ja auch eine große Umwälzung. Mittrowann: „Wir mussten einen Perspektivwandel durchmachen: den Kindern mehr zutrauen und uns in die zweite Reihe stellen. Dieses Loslassen erfordert eine große Portion Mut.“ Die Schulleitung half damals den Skeptikern, an andere Standorte zu wechseln. „Aber umgekehrt gab es auch etliche Kolleginnen, die aufgrund unseres Konzepts zu uns gekommen sind.“

Natürlich hatten auch manche Eltern anfangs Bedenken, gerade unter den vielen Migranten in Bremerhaven-Lehe. „Inzwischen stoßen wir auf sehr gute Resonanz der Eltern“, berichtet Mittrowann. Und von den weiterführenden Schulen bekommt sie Rückmeldungen, dass die Marktschul-Abgänger zwar „keine Überflieger sind, aber sehr selbstbewusste und soziale Kinder“.

Das spürt man auch, wenn man sich mit Klassensprecherinnen unterhält. Die zehnjährige Marie findet es gut, „dass man mitreden darf und dass man den Kleinen helfen kann. Meine Eltern sind sehr stolz auf mich“. Lara, ebenfalls zehn, wie fast alle Klassensprecher und -sprecherinnen, redet wie eine Große über ihr Amt: „Ich bin dadurch selbstbewusster geworden, ich traue mich mehr.“

Manchmal wird es den Kindern aber auch zu viel mit der ganzen Mitbestimmung. „Frau Mittrowann, kannst du das nicht einfach bestimmen?“, wird die Rektorin gelegentlich gefragt. Ihre Antwort aus voller Überzeugung: „Nee, mach‘ ich nicht.“ Selbstverständlich, sagt sie, „können Kinder nicht alles entscheiden, weil sie nicht immer den nötigen Überblick haben“. Doch schon in jungen Jahren könnten sie Verantwortung übernehmen und Selbstwirksamkeit spüren. „Sie merken, dass sie etwas erreichen können. Sie hinterfragen und diskutieren, sie lernen demokratische Strukturen kennen.“ Samt der nötigen Geduld bei schwierigen Entscheidungsprozessen – auch wenn es dabei „nur“ um Eisbären oder Seepocken geht.