Peru und die Coronapandemie
Hoffen auf die Impfung
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, warnt davor, dass für viele Kinder in den Ländern des Globalen Südens das Schuljahr 2020/21 verloren sein könnte. In Peru sind die Folgen der Pandemie besonders dramatisch.
Eleonora Morales Azurín kennt Mayrasco genauso aus den Erzählungen ihrer Lehrkräfte wie andere Dörfer aus dem Umland von Cusco. Etliche Schülerinnen und Schüler aus der San Jerónimo, einem Arbeiterviertel am Rande der alten peruanischen Inkastadt, hat es in Dörfer in der Umgebung verschlagen. „In Mayrasco klettern mehrere unserer Schüler auf Hügel oder Bergvorsprünge, um das Funksignal zu erwischen und die Sendung oder die Nachricht vom Lehrer oder der Lehrerin zu bekommen“, erklärt die Rektorin der Schule Fe y Alegría 21 aus Cusco. Ein müdes, wenn auch stolzes Lächeln spielt um ihre Lippen, denn obwohl das schwarze, gusseiserne Schultor seit Monaten geschlossen ist, geht es drinnen weiter.
Morales Azurín hatte mit ein paar Kolleginnen und Kollegen Mitte Februar angefangen, das neue Schuljahr vorzubereiten, das am 15. März begann. Stundenpläne gemacht, Lernzettel kopiert, Klassenlisten und E-Mail-Verteiler erstellt, um das neue Schuljahr zumindest virtuell ins Laufen zu bekommen. „Das ist alles andere als einfach, auch wenn die Kollegen den Kontakt zu den Schülern in aller Regel gehalten haben. Das ist super, aber nur die halbe Miete. Sie brauchen Anleitung, Erklärung, was sie machen sollen, welche Sendung von ‚Aprendo en Casa‘ sie sehen sollen und so weiter.“
Digitalisierung „über Nacht“
„Aprendo en Casa“ heißt das Online-Unterrichtsformat des Bildungsministeriums in Lima. Erst als reines Online-Tool konzipiert, wurde es in den vergangenen Monaten weiterentwickelt und ist mittlerweile auch im Fernsehen und Radio zu empfangen. „Das sorgt für größere Reichweite“, lobt Salomón Lerner, Bildungsexperte und emeritierter Professor der Päpstlichen katholischen Universität von Lima. „Durch die Pandemie wurden viele ältere Lehrkräfte und noch mehr Schülerinnen und Schüler über Nacht ins 21. Jahrhundert katapultiert. Hier in Peru hatten wir kaum virtuellen Unterricht, auch aufgrund des technologischen Gefälles zwischen Stadt und Land“, erklärt der 76-Jährige.
Nur ein Teil der Schülerinnen und Schüler und auch nicht alle Lehrkräfte hatten vor der Pandemie einen Computer, Laptop oder ein Tablet. Nach wie vor kann man landesweit Kinder und manchmal auch Jugendliche sehen, die ihr Smartphone gen Himmel recken, um Empfang zu ergattern.
Schlechte Infrastruktur
Das soll sich laut den Plänen des Bildungsministeriums mit der Lieferung von rund einer Million Tablets bis spätestens Sommer 2021 ändern. Die Geräte sollen auch in armen, abgelegenen Regionen des Landes verteilt werden und sind internetfähig. „Das ist positiv“, so Rektorin Morales Azurín. Allerdings weist sie, aber auch ihr Kollege Carlos Herz darauf hin, dass es mit Geräten allein nicht getan sei. Herz, Leiter des kirchlichen Bildungszentrums Bartolomé de las Casas in Cusco, kennt die Netzprobleme in Peru aus alltäglicher Anschauung. „Bei Regen ist die Netzverbindung schon zwischen Lima und Cusco instabil“, schildert Herz seine Erfahrungen aus gut einem Jahr Pandemie und bildungspolitischer Improvisation. Herz, ein 62-jähriger Entwicklungsexperte, der früher auch für die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) aktiv war, pendelt zwischen Lima und Cusco und begrüßt, dass „Aprendo en Casa“ auch in den Medien läuft.
Zwar gibt es durchaus Stimmen, die das Niveau als zu niedrig beurteilen, aber für Praktiker wie Morales Azurín oder Herz ist das nur ein Aspekt. In den Anden um Cusco herum ist die Infrastruktur mies. Schulen ohne Wasser- und Abwasser-Anschluss gibt es genauso wie in der Regel zu kleine Klassenräume. Oft ist nur ein Lehrer oder eine Lehrerin für mehrere Klassen verantwortlich, kritisiert die Bildungsgewerkschaft SUTEP. Mit den Infektionsschutzbestimmungen, aber auch dem Konzept des „semipräsenten“ Unterrichts in kleineren Klassen ist das nicht zu vereinbaren. „Landesweit ist die Zahl der Pädagoginnen und Pädagogen zu niedrig, erste Schätzungen gehen vom doppelten Bedarf aus“, bestätigt Lerner.
Ökonomische Talfahrt
Das deckt sich mit den Schätzungen der SUTEP, die für umgehende Neueinstellungen plädiert, um verlorene Lernzeit zumindest teilweise zu kompensieren. Längst warnen UNICEF-Experten vor einem verlorenen Jahr für Lateinamerikas Kinder und Jugendliche. Anders als in Europa schlossen die Schulen früh und blieben in aller Regel auch zu. Das hat markante Folgen.
Ein Phänomen ist die hohe Zahl der „Schuldeserteure“ – vor allem männlichen Geschlechts. Auf rund eine Million taxiert SUTEP deren Zahl. Alarmierend angesichts von offiziell 7,8 Millionen Schülerinnen und Schülern in Peru. Dieser Trend könnte sich 2021 weiter fortsetzen, weil das Land durch die Pandemie in die Rezession gerutscht ist. Um 11,1 Prozent schrumpfte die Ökonomie im Jahr 2020. Das habe handfeste ökonomische Folgen, so Morales Azurín. „Wir haben vor allem halbwüchsige Schüler, die ihre Väter auf die Reise in deren Herkunftsgemeinden begleiten müssen. Dort wird in der Landwirtschaft, aber auch im Bergbau geschuftet.“
„Die Familien konnten sich das Schulgeld schlicht nicht mehr leisten.“
Geld zu verdienen hat Vorrang vor Bildung, das bekommen auch die Privatschulen zu spüren. Mindestens 300.000 Schülerinnen und Schüler sollen von privaten in öffentliche Schulen gewechselt sein, so Herz. „Die Familien konnten sich das Schulgeld schlicht nicht mehr leisten.“ Die ökonomische Talfahrt, deren Ende noch nicht abzusehen ist, trifft vor allem die, die kein formales Arbeitsverhältnis haben: „Tagelöhner, Straßenverkäufer, Handwerker, die mit ihrer Werkzeugtasche am frühen Morgen im Zentrum von Cusco auf Arbeitgeber warten“, sagt Herz. „Das sind zwischen 70 und 75 Prozent aller Beschäftigten in Peru.“ Er hofft, dass in den nächsten zwei, drei Monaten Schülerinnen und Schüler wie Lehrkräfte in Serie geimpft werden, um zumindest das Schuljahr 2021 zu retten.
Eine Hoffnung, die auch Rektorin Morales Azurín teilt. Sie geht nach wie vor davon aus, dass ihre Schule in San Jerónimo die Pandemie ohne massive Abgänge überstehen wird. Das ist zwar noch nicht sicher, aber die Tatsache, dass das gesamte Kollegium den Schülerinnen und Schülern regelmäßig hinterhertelefoniert, könnte durchaus Wunder gewirkt haben.