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Coronapandemie - eine Zwischenbilanz

„Größte Bildungskrise  seit 100 Jahren“

Die Länder Europas finanzieren die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie derzeit vor allem mit neuen Schulden. Dabei hilft ein 750-Milliarden-Euro-Paket der Europäischen Union (EU) samt Aussetzen des strengen Stabilitätspaktes - vorerst.

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Mit dem Geld aus dem milliardenschweren Investitionsprogramm der Europäischen Union (EU) sollen unter anderem die Folgen der Corona-Pandemie für den Bildungssektor abgemildert werden. Doch die Gefahr ist groß, dass die EU-Staaten mit den Mitteln ihre Haushaltslöcher stopfen. (Foto: mauritius images/Frank Harms/Alamy)

Nicht kleckern, sondern klotzen! An einem Juli-Morgen im Corona-Sommer 2020 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedstaaten auf ein historisch einmaliges Aufbaupaket von 1,8 Billionen Euro – es gilt als größtes Konjunkturpaket, das jemals aus dem EU-Haushalt finanziert wurde. Zur Finanz-Bazooka gehört auch ein 750-Milliarden-Euro-Hilfsfonds unter dem Titel „NextGenerationEU“. Damit kann die EU-Kommission zum ersten Mal Geld an den Finanzmärkten leihen und diese an die Mitgliedstaaten als zinsgünstige Kredite weiterreichen – weil die EU über eine höhere Bonität als viele ihrer Mitgliedstaaten verfügt.

Das Geld aus Brüssel soll nicht zuletzt für Forschung und Innovationen, Digitalisierung und einen besseren Klimaschutz verwendet werden. Die Pläne, wie die Ziele konkret umgesetzt werden, müssen die Regierungen bis Ende April bei der Kommission zur Genehmigung vorlegen. Denn im Europaparlament wächst die Befürchtung, dass Regierungen von Madrid über Rom bis Berlin in die Versuchung geraten könnten, die Mittel für Wahlgeschenke und zum Stopfen von Haushaltslöchern zu nutzen. Allein in Deutschland ist 2020 ein Staatsdefizit von 140 Milliarden Euro aufgelaufen.

Von der Gesundheitsmisere zur Bildungskrise

Ähnlich wie in der Bundesrepublik – wo die Pandemie das ohnehin chronisch unterfinanzierte Bildungssystem an die Grenzen seiner Belastbarkeit bringt – mühen sich derzeit auch die anderen Staaten Europas, noch ausreichend Geld für Kita, Schule, Hochschule und Weiterbildung bereitzustellen. Eine Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnt bereits vor einer drohenden Tendenz hin zu anderen Gesellschaftsbereichen: „Obwohl Ungewissheit über die wahrscheinliche Gesamtwirkung der Corona-Pandemie auf Bildungsausgaben besteht, werden die Staaten vor schwierige Entscheidungen im Hinblick auf die Ressourcenverteilung gestellt, da staatliche Mittel in die Wirtschaft und den Gesundheitssektor fließen.“ Wie also gehen Europas Nachbarn mit der Situation um, die nicht nur eine Gesundheitsmisere, sondern bald auch eine Bildungskrise werden kann? Wie lange hilft der Rettungsschirm aus Brüssel? Und welche Auswirkungen hat die Pandemie zukünftig auf die Bildungsfinanzierung?

Großbritannien erhöht Steuern

Wirtschaftlich und gesundheitlich besonders schwer von der Pandemie getroffen ist Spanien. Dementsprechend gehört das Land unter dem linken Premier Pedro Sánchez auch zu den größten Nutznießern der EU-Hilfen. Von den insgesamt 750 Milliarden Euro für Europa sind 140 Milliarden für das iberische Königreich vorgesehen, gut die Hälfte davon als Zuschuss, der andere Teil als Kredit. Nach Leitlinien der Regierung soll immerhin der größte Anteil von 17,6 Prozent in Bildung und Ausbildung fließen, ein weiterer großer Posten von 16,5 Prozent in Wissenschaft, Forschung sowie das Gesundheitswesen. Zugleich erhöht die Regierung die Einkommensteuer, die Vermögensteuer und die Unternehmensteuer – allerdings nur geringfügig und in eher symbolischen Größenordnungen.

Ein ähnliches Beispiel gibt Frankreich: Angesichts der schwächelnden Konjunkturaussichten diskutiert die Regierung bereits ein weiteres Konjunkturpaket. Das bisherige Programm unter dem Titel „France Relance“ beinhaltet mehrere Maßnahmen wie leichtere Zugänge zu höherer Bildung und digitale Transformation. Unter anderem wird ein 105-Millionen-Euro-Paket für digitale Bildung an Grundschulen aufgelegt.

Großbritannien dagegen zahlt bereits einen Preis für den Brexit: Es profitiert nicht mehr vom Next-Generation-Plan und muss die Folgen der Pandemie aus eigener Kraft schultern. Daher kündigte die Regierung in London als wohl erste Industrienation deutliche Steuererhöhungen vor allem für Unternehmen an, um Corona-Hilfsprogramme zu finanzieren und explodierende Staatsschulden abzufedern. Nach zehn Jahren, in denen die Körperschaftsteuer stetig sank, soll sie ab 2023 spürbar steigen. Laut dem Rechnungshof OBR wächst bis 2025 die Steuerlast insgesamt auf 35 Prozent – der höchste Stand seit den späten 1960er-Jahren. Ob aber die Maßnahmen international ausreichen, darf bezweifelt werden.

„Um gegenzusteuern, muss auch und gerade in der Pandemie weiter in das unterfinanzierte Bildungswesen investiert werden.“ (Marlis Tepe)

GEW-Chefin Marlis Tepe – zugleich Vize-Vorsitzende der Bildungsinternationale (BI) – ist mittlerweile zunehmend besorgt, dass die Pandemie die Bildungskrise international verschärft und bestehende Ungleichheiten festigt. „Um gegenzusteuern, muss auch und gerade in der Pandemie weiter in das unterfinanzierte Bildungswesen investiert werden“, fordert Tepe.

Bildungsausgaben erhöhen

Wichtig und dringend nötig seien eine Erhöhung, mindestens aber eine Beibehaltung der nationalen Bildungsaufwendungen und mehr Unterstützung des Bildungspersonals. Es gehe um bessere digitale Angebote, Fortschritte beim Zugang für Lernende und Lehrende sowie Fortbildungen, um die digitalen und pädagogischen Kompetenzen zu erhöhen. „Die Corona-Krise darf nicht zur Krise für qualitativ hochwertige Bildung, soziale Gerechtigkeit und das Bildungspersonal werden“, sagt Tepe. Zugleich dürften die reichen Industriestaaten wie Deutschland ihre Unterstützung für die ärmeren Länder, in denen die Pandemie noch viel gravierendere Auswirkungen hat, nicht einschränken. Immerhin sei es durch beharrliche Lobbyarbeit der Globalen Bildungskampagne gelungen, den Beitrag der Bundesregierung zur internationalen Bildungsfinanzierung von jährlich sieben Millionen auf 75 Millionen Euro zu erhöhen.

„Die Schere im Bildungssystem öffnet sich weiter.“ (Sandra Dworack)

Auch die Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam kritisiert die sich abzeichnende Entwicklung: „Wir befinden uns mitten in der größten Bildungskrise seit 100 Jahren.“ Kita- und Schulschließungen sowie mangelhafte Fernangebote würden Bildungsnachteile verschärfen; Kinder einkommensschwächerer und bildungsferner Schichten zahlen einen hohen Preis. „Die Schere im Bildungssystem öffnet sich weiter“, warnt Sandra Dworack, Oxfam-Referentin für Bildung und Entwicklung. „Wir brauchen jetzt weltweit Investitionen in gute öffentliche Bildung. Dann können wir solche Herausforderungen wie die Corona-Krise meistern, gute Bildungschancen für alle schaffen und soziale Ungleichheit überwinden.“