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Beamtenstreikrecht vor dem EGMR

GEW versus BRD

Der 1. März 2023 war für die GEW ein wichtiger Tag: Vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg wurden die Beschwerden von vier GEW-Mitgliedern gegen das Beamtenstreikverbot verhandelt. Das Urteil wird in einigen Wochen erwartet.

Streiks verbeamteter Lehrkräfte sind in Deutschland verboten. Die GEW will das mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ändern. (Foto: IMAGO/Panthermedia)

Die drei Kolleginnen und ein Kollege, deren Beschwerden verhandelt werden, waren in den Jahren 2009 und 2010 in vier Bundesländern Warnstreikaufrufen der GEW gefolgt. Dabei ging es zum Teil um die Übertragung des Tarifergebnisses auf die Besoldung der Beamtinnen und Beamten und zum Teil um die Abwehr von Verschlechterungen in der Pflichtstundenverordnung des Landes Schleswig-Holstein. Alle vier hatten mit GEW-Rechtsschutz gegen die daraufhin verhängten Disziplinarmaßnahmen geklagt. Mehrere Urteile des EGMR hatten die GEW ermutigt, diesen Weg zu beschreiten. Die EGMR-Entscheide sahen in dem pauschalen Beamtenstreikverbot der Türkei einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).

Der Widerspruch zwischen EMRK und deutscher Rechtslage haben mehrere Gerichte in Deutschland gesehen, auch das Bundesverwaltungsgericht 2015. Andere Gerichte lehnten diese Sichtweise ab oder erklärten sich für nicht befugt, solche Fragen zu entscheiden.

Kein anderes demokratisches Land verbietet Streiks unabhängig von der Tätigkeit.

2018 bestätigte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) letztinstanzlich das Beamtenstreikverbot. Es begründete seine Entscheidung damit, dass sich das Beamtenstreikverbot zwingend aus den „hergebrachten Grundsätzen des Beamtentums“ (einem „ungeschriebenen Gesetz“) ergebe. Dahinter müsse die in Artikel 9 des Grundgesetzes garantierte Koalitionsfreiheit der Beschäftigten, die das Streikrecht begründet, zurückstehen. Die GEW hatte dieses Urteil kommen sehen und daher schon bei der Entscheidung, die Disziplinarmaßnahmen rechtlich anzugreifen, erklärt, nötigenfalls bis zum EGMR zu gehen.

Die Bundesrepublik Deutschland steht wegen des Beamtenstreikverbots seit Jahrzehnten in der Kritik internationaler Organisationen wie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), der UN-Komitees für Menschenrechte und für Sozialschutz, dem Europäischen Komitee für Soziale Rechte oder dem Internationalen Gewerkschaftsbund. Das ficht die verschiedenen Bundesregierungen (egal welcher politischen Couleur) aber nicht an, sie verteidigen das Streikverbot stets mit Verweis auf die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“, diese seien zentraler Bestandteil der deutschen Staatsarchitektur. Entsprechend argumentiert die Bundesregierung – gestützt auf das Urteil des BVerfG – auch in dem vorliegenden Verfahren.

Für Menschen aus anderen demokratischen Ländern mutet diese Argumentation sehr befremdlich an. Viele europäische Länder kennen einen Beamtenstatus mit Lebenszeitprinzip und Alimentationsanspruch – auch und nicht zuletzt für Lehrkräfte an staatlichen Schulen. Doch kein Land käme auf die Idee, deshalb das Streikrecht völlig unabhängig von der konkreten Funktion der Beschäftigten kategorisch auszuschließen. Die EMRK erlaubt zwar „rechtmäßige Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung“. Lehrkräfte gehören jedoch nicht zu diesen Gruppen.

Die GEW will das Beamtenrecht modernisieren. Sie will die Position der Beamtinnen und Beamten, der Lehrerinnen und Lehrer stärken. Bis heute sind diese vom Wohlwollen der Arbeitgeber in Bund, Ländern und Kommunen abhängig. Der Dienstherr verordnet, wie lange gearbeitet werden soll. Er entscheidet über die Einkommen, die Erhöhung oder Kürzung der Bezahlung und die Arbeitsbedingungen. Allein! Ohne ein demokratisches Mitspracherecht der Beschäftigten. Aus „Fürsorge“. Das hört sich stark nach Ständestaat des 18. Jahrhunderts, nicht aber nach dem 21. Jahrhundert an. Das will die GEW ändern, ohne dass sie den Beamtenstatus als solchen in Frage stellt.

Nach der mündlichen Verhandlung wird der EGMR – voraussichtlich – in den nächsten Monaten ein schriftliches Urteil fällen. Sollte dieses im Sinne der Klägerinnen und Kläger positiv ausfallen, wird die GEW den Auftrag, das Beamtenrecht zu modernisieren und ein Streikrecht gesetzlich möglich zu machen, gegenüber der Politik einfordern. Denn: Die Bundesrepublik muss den EGMR-Entscheid nicht automatisch in deutsches Recht umsetzen! Schlimmstenfalls muss die GEW erneut durch alle Instanzen ziehen. Geht das Urteil hingegen negativ aus, ist der juristische Weg beendet.

Ulf Rödde, Redaktionsleiter „Erziehung und Wissenschaft“

Es geht um elementare (Menschen-)Rechte

Dass es am 1. März 2023 in den „GEW-Verfahren“ eine mündliche Verhandlung gab, ist ebenso wenig selbstverständlich wie der Umstand, dass der EGMR das Verfahren direkt an die Große Kammer überwiesen hatte. Diese wird nur bei sehr grundsätzlichen Fragen angerufen. Das deutet darauf hin, dass dieses Verfahren für den EGMR hohe Bedeutung hat. Ein schriftliches Urteil wird erst mehrere Monate nach der Verhandlung vorgelegt.

Die GEW wird oft gefragt, warum sie dieses Verfahren führt. Manche Bedenkenträger warnen, dass Lehrkräfte nicht mehr verbeamtet würden, wenn man sie streiken ließe. Andere werfen der GEW Rosinenpickerei vor – die Lehrkräfte wollten wohl das Beste aus beiden Welten der Angestellten sowie der Beamtinnen und Beamten.

All diese Vorwürfe gehen aber am Kern der Sache vorbei. Es geht um elementare (Menschen)Rechte, konkret um das Recht, sich Seite an Seite mit den Angestellten auch mit dem Mittel des Arbeitskampfes für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen. Richtig ist zwar, dass verbeamtete Lehrkräfte in der Regel am Monatsende mehr Netto in der Tasche haben als angestellte Lehrkräfte mit gleicher Tätigkeit und Ausbildung. Beide leiden dabei gleichermaßen unter den hohen Belastungen des Jobs und unter überlangen Arbeitszeiten.

Der Dienstherr kann derzeit verbeamtete und angestellte Lehrkräfte gegeneinander ausspielen.

Dass das so ist, hat aber sehr viel damit zu tun, dass es Angestellte und Beamte gibt, dass der Dienstherr beide Statusgruppen gegeneinander auszuspielen versucht und unter den derzeitigen rechtlichen Regelungen ein gemeinsamer Kampf aller Lehrkräfte nicht möglich ist. Streiks der Angestellten für eine bessere Eingruppierung verpuffen schnell in Kollegien mit mehrheitlich Beamten. Die meisten anderen Arbeitsbedingungen werden durch Beamtengesetze geregelt, die auch für die Angestellten gelten, so dass Streiks dagegen für beide Gruppen verboten sind.

Deshalb hat sich die GEW als Organisation zu einer sogenannten Drittintervention entschlossen, weil sie sich durch das Beamtenstreikverbot in ihren Rechten als Gewerkschaft eingeschränkt sieht: In ihrem zentralen Organisationsbereich – der Schule – kann die GEW ihre zentrale Aufgabe, die Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen, nur eingeschränkt wahrnehmen. Aus dem gleichen Grund haben auch der DGB und der Europäische Gewerkschaftsbund Drittinterventionen eingereicht.

Verbeamtung günstiger als Beschäftigung Angestellter

Das Argument, die Privilegien des Beamtenstatus seien hinreichend groß, um eine derartige Grundrechtseinschränkung zu rechtfertigen, verrät zudem ein sehr eigenartiges Grundrechtsverständnis der Bundesrepublik Deutschland. Grundrechte sind nicht verhandelbar. Sie sollten auch nicht durch Geld oder Privilegien abzukaufen sein.

Bleibt zu guter Letzt die Befürchtung, wenn verbeamtete Lehrkräfte streiken dürfen, würden Lehrerinnen und Lehrer künftig nicht mehr verbeamtet. Abgesehen davon, dass bereits verbeamtete Lehrkräfte ohnehin nichts zu befürchten haben – auch für die Zukunft gibt ein Blick in die Verbeamtungspraxis der Bundesländer Entwarnung. Die Entscheidung für Verbeamtung oder Nicht-Verbeamtung war immer von finanziellen und vor allem arbeitsmarktpolitischen Erwägungen getragen.

Für den Dienstherrn ist eine Verbeamtung – zumal wenn keine Rückstellungen für die spätere Versorgung der Beamtinnen und Beamten gebildet werden – günstiger als die Beschäftigung Angestellter. Da zumindest im Westen alle Bundesländer bereits einen Berg Versorgungsausgaben für die Lehrkräfte der Vergangenheit mit sich herumschleppen, haben sie wenig Interesse, parallel dazu für die aktiven Lehrkräfte zudem hohe Sozialabgaben zu schultern.

In Zeiten des Fachkräftemangels ist die Verbeamtung ein starkes Instrument – für Dienstherren und Beschäftigte gleichermaßen.

Vor allem aber ist in Zeiten des Fachkräftemangels die Verbeamtung ein starkes Instrument – für Dienstherren und Beschäftigte gleichermaßen. Länder, die ihre Lehrkräfte nicht verbeamten, haben im Wettbewerb mit anderen das Nachsehen. In dieser Hinsicht mussten in den vergangenen Jahren auch Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und zuletzt Berlin, die ihre Lehrkräfte als Angestellte einstellten, kapitulieren.

Umgekehrt ließ sich in Phasen mit hoher Lehrkräftearbeitslosigkeit und/oder in Erwartung sinkender Schülerinnen- und Schülerzahlen bereits in der Vergangenheit beobachten, dass vermehrt Angestelltenverträge abgeschlossen wurden, gerne befristet und gerne in unfreiwilliger Teilzeit. Statt eine verbesserte Schüler-Lehrer-Relation für pädagogische Verbesserungen und weniger Pflichtstunden zu nutzen, wollten die Landesregierungen die vermeintlich überzähligen Lehrkräfte möglichst geräuschlos wieder loswerden können.

Die GEW steht für eine solidarische Arbeitswelt, in der Beamtinnen und Beamte sowie Angestellte gemeinsam für ein besseres Bildungssystem und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen – wenn nötig auch mit dem letzten Mittel der Gewerkschaften: dem Streik.