Tarifvertrag Gesundheitsschutz
„Gesundheit groß, Klassen klein”
Bereits für elf Tage in den vergangenen zwei Jahren hat die GEW Berlin angestellte Pädagoginnen und Pädagogen zu Warnstreiks für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz aufgerufen. Die zentrale Forderung: kleinere Klassen.
Große Klasse wären kleinere Klassen“, „Gesundheit groß, Klassen klein“ – bis zu 4.000 Lehrkräfte, Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Schulpsychologinnen und -psychologen versammeln sich unter Bannern wie diesen regelmäßig in Berlin. Seit Mitte 2021 kämpft die GEW Berlin für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz, die zentrale Forderung: Entlastung durch kleinere Lerngruppen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes steht Berlin bei der durchschnittlichen Größe der Grundschulklassen mit 22,6 Kindern im Bundesländervergleich auf dem vorletzten Platz, noch größer sind Klassen nur in Nordrhein-Westfalen mit 23,5 Lernenden.
„In der Realität sind auch Klassen mit 29 Schülerinnen und Schülern keine Seltenheit“, berichtet Tom Erdmann. Der Vorsitzende der GEW Berlin verweist zudem auf eine jüngst ausgelaufene Regelung, nach der wenigstens Schulen mit vielen armutsbetroffenen Kindern Klassen mit 19 Schülerinnen und Schülern bilden konnten: „Es leidet die Bildung der Kinder, die es am nötigsten haben.“ So sieht es auch der Landeselternausschuss, der die Warnstreiks der angestellten Pädagoginnen und Pädagogen unterstützt.
„Die Kolleginnen und Kollegen sind aus vielen Gründen überlastet, doch kleinere Klassen sind eine zentrale Stellschraube.“ (Tom Erdmann)
Das Hauptaugenmerk liegt indes auf der Belastung der Lehrkräfte. In einer Online-Umfrage ermittelte die GEW Berlin „große Lerngruppen“ mit 67,9 Prozent Zustimmung als Haupt-Belastungsfaktor, vor Personalmangel (46,6 Prozent), schlechter technischer Ausstattung (45,5 Prozent) und Lärm (45,1 Prozent). „Die Kolleginnen und Kollegen sind aus vielen Gründen überlastet“, erklärt Erdmann, „doch kleinere Klassen sind eine zentrale Stellschraube.“ Die konkrete Forderung: in der Grundschule maximal 19, in Klasse 7 höchstens 21, ab der Mittelstufe 24 Schülerinnen und Schüler.
Gemischte Signale aus der neuen Koalition
Seit Ende April regiert in Berlin die CDU in einer Koalition mit der SPD; die Bildungsverwaltung ist erstmals seit 27 Jahren in Händen der Christdemokraten. In deren Wahlprogramm heißt es, sie wollten durch bessere Personalgewinnung „den Unterrichtsausfall begrenzen, kleinere Klassen einrichten und damit die Qualität des Unterrichts entscheidend verbessern“. Die neue Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch – übrigens GEW-Mitglied – sendete indes in ihrem ersten großen Interview nach der Vereidigung im Berliner Tagesspiegel gemischte Signale. Einerseits erklärte sie „Gesprächsbereitschaft“, andererseits müsse man der „GEW ganz klar sagen: Die Forderung nach kleineren Klassen ist richtig, aber in der aktuellen Zeit sowie in der Vehemenz und in dem Umfang nicht umsetzbar. Aber natürlich muss man schauen, wie man an anderen Stellen entlastet.“
„Der dramatische Lehrkräftemangel ist uns bekannt“, entgegnet GEW-Landesvorsitzender Erdmann, „allerdings ist dieser selbst verschuldet.“ Die GEW mahnt den Berliner Senat – und insbesondere auch den Finanzsenator Stefan Evers (CDU) –, mit ihr zügig über einen Ausbau der Lehrkräftebildung und einen Stufenplan hin zu kleineren Klassen zu verhandeln.
„Wir betrachten den Kampf der GEW Berlin als Pilotprojekt.“ (Oliver Brüchert)
Die Blaupause für einen Tarifvertrag zur Entlastung der Beschäftigten erkämpfte vor zwei Jahren das Berliner Krankenhauspersonal. Die Beschäftigten von Charité und Vivantes setzten Tarifverträge durch, die festlegen, in welchen Stationen und Bereichen wie viel Personal für wie viele Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen muss. Wird der Schlüssel wiederholt unterschritten, gibt es Anspruch auf zusätzliche Freizeit oder andere Maßnahmen zur Entlastung. Nach Angaben der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gelten solche Vereinbarungen inzwischen bundesweit in 15 Kliniken.
Oliver Brüchert, Referent für Tarif- und Beamtenpolitik beim GEW-Hauptvorstand, misst den von ver.di initiierten Streiks zur Entlastung des Krankenhauspersonals „historisch-streikrechtliche Bedeutung“ bei. „Rechtlich besteht kein Zweifel, dass das Modell übertragbar ist“, konstatiert er – die tarifrechtliche Regelbarkeit von Gesundheitsschutzmaßnahmen im Sozial- und Erziehungsdienst hätten Arbeitsgerichte längst bestätigt. Für den Schuldienst bedeute das: „Die Arbeitsbelastung hängt vor allem mit der Klassengröße zusammen. Kleinere Klassen sind eine Maßnahme des Gesundheitsschutzes, deshalb dürfen die Beschäftigten dafür streiken.“
Der Tarifkoordinator der GEW weist zudem darauf hin, dass Lehrkräfte in allen Bundesländern dringend Entlastung brauchten: „Wir betrachten den Kampf der GEW Berlin als Pilotprojekt.“