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fair childhood

Freiheit zum Lernen

Modellprojekt am Indischen Ozean: Im Osten Tansanias haben Gewerkschafter sich vorgenommen, Kinderarbeit zu beseitigen, zunächst in zwei Dörfern des Bezirks Mvomero. Die GEW-Stiftung Fair Childhood unterstützt sie dabei.

Kinder an der Mlandizi-Grundschule in Mangaye / Foto: Samuel Grumiau

Am Ende hatte die Mutter das letzte Wort. Sein Vater, erzählt der 15-jährige Rachid, hätte es lieber gesehen, er wäre bei den Kühen geblieben statt wieder zur Schule zu gehen. Dort war der Junge aus der Volksgruppe der Massai seit Ende 2017 nicht mehr gewesen, hatte stattdessen für umgerechnet zwölf Euro im Monat Vieh gehütet. Die Eltern hatten ihn damals aus finanzieller Not abgemeldet, weil das Geld nicht mehr für Schuluniform und Bücher reichte. Der Vater konnte aber wohl auch ganz gut damit leben, einen zusätzlichen Verdiener in der Familie zu haben.

Dass Rachid neuerdings wieder lernen darf, hat er vor allem den drei Lehrkräften zu verdanken, die eines Tages seine Familie aufsuchten und dem Vater gemeinsam mit der Mutter ins Gewissen redeten. Sie kamen als Abgesandte der Bildungsgewerkschaft Tanzania Teachers’ Union (TTU), die seit 2017 im unweit der Küste gelegenen Bezirk Mvomero einen systematischen Kampf gegen Lohnarbeit Minderjähriger führt. Ein erstes Etappenziel ist, zunächst in zwei Teilgemeinden des Bezirks, den Dörfern Mangaye und Melela, eine „kinderarbeitsfreie Zone“ zu realisieren.

Das Konzept stammt ursprünglich aus Indien, wo es seit 1991 von der auf Bildungsthemen fokussierten MV Foundation propagiert wird. Neuerdings haben die niederländische Stop Child Labour Coalition und die Bildungsinternationale (Education International) es sich zu eigen gemacht. Immer geht es zunächst darum, in einem kleinen, überschaubaren Gebiet, einem Dorf, einem Stadtviertel oder auch einer einzelnen Plantage allen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Dabei lautet eine Grundannahme, dass Kinderarbeit nicht in erster Linie eine Folge der Armut, sondern kinderfeindlichen Traditionen und gesellschaftlichen Normen zuzuschreiben ist. Eine „kinderarbeitsfreie Zone“ ist somit nicht zuletzt eine Botschaft an die Erwachsenen, deren Bewusstsein für die Unverzichtbarkeit der Schulbildung nachhaltig geschärft werden soll.

In Mangaye und Melela fanden die gewerkschaftlichen Initiatoren ihre ersten Ansprechpartner an den acht Schulen der beiden Ortschaften. Ein Handbuch der TTU für die Lehrkräfte bot Basiskenntnisse in der Landessprache Suaheli: eine Übersicht der wichtigsten internationalen und nationalen Bestimmungen zum Thema Kinderarbeit, Hinweise zum Umgang mit betroffenen Familien, Tipps für außerschulische Aktivitäten. Die Schulleitungen sowie 24 Lehrerinnen und Lehrer konnten sich so zu Experten fortbilden.

An jeder der acht Schulen ist eine Lehrkraft für das Thema federführend zuständig, insbesondere für die Mobilisierung der Schülerinnen und Schüler, um das Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen: Theater gegen Kinderarbeit, Poesie gegen Kinderarbeit, Singen gegen Kinderarbeit, Fußball gegen Kinderarbeit – die Palette der Ideen und Möglichkeiten ist breit. Vielfach sind es auch die Schülerinnen und Schüler, die melden, wenn sie in ihrem Umfeld Fälle von Kinderausbeutung bemerken, und dann gemeinsam mit den Lehrkräften versuchen, Abhilfe zu schaffen.

„Wir haben im Dorf ein Elternkomitee gegründet. Wir reden mit Familien, die ihre Kinder ausbeuten lassen. Wir erklären ihnen, dass ein Kind zu Hause nicht mehr fünf außerschulische Aufgaben am Tag erledigen sollte.“ (Evarista David)

Mittlerweile ist der Funke übergesprungen. Als überzeugter Kämpfer gegen Kinderarbeit gibt sich etwa der Ortsvorsteher von Melela, Amini Membe: „Die Lehrkräfte haben mir erklärt, was sie in der Fortbildung bei ihrer Gewerkschaft gelernt haben. Jetzt begleite ich sie nach Feierabend zu Familien, die ihre Kinder zum Arbeiten schicken. Ich nutze meinen Einfluss, um sie zu überzeugen.“ Wo das nicht reicht, verfügt Membe auch über andere Mittel. Seit Jahren gibt es in Melela eine Gemeindesatzung, die Eltern mit einem Bußgeld von umgerechnet 19 Euro bedroht, wenn sie ihre Kinder von der Schule fernhalten. Diese wurde früher jedoch nie angewandt. Das hat sich geändert.

Nicht nur die Lehrkräfte leisten Überzeugungsarbeit. Auch manche Eltern nähmen neuerdings stundenlange Fußwege auf sich, um Familien auf entlegenen Gehöften zu erreichen, berichtet Evarista David, selbst Mutter eines schulpflichtigen Sohnes: „Wir haben im Dorf ein Elternkomitee gegründet. Wir reden mit Familien, die ihre Kinder ausbeuten lassen. Wir erklären ihnen, dass ein Kind zu Hause nicht mehr fünf außerschulische Aufgaben am Tag erledigen sollte.“ Bildung, sagt David, sei „der Schlüssel zum Leben“. Sie selber habe, als sie klein war, diese Chance nicht gehabt.

„Wir erklären ihnen, dass ihre Kinder Bildung brauchen, um eine Berufsalternative zu haben, wenn der Klimawandel die Weidegründe weiter austrocknen lässt.“ (Hagai Yonna)

Seit Beginn des Projekts konnten in beiden Ortschaften 58 Kinder, die wie Rachid zuvor als Viehhirten oder in der Landwirtschaft geschuftet hatten, als Edelsteinschürfer, Markt- oder Straßenhändler arbeiteten, ins Bildungssystem zurückkehren. Viel bleibt indes noch zu tun. Manche Kinder haben in der Vergangenheit frustriert aufgegeben, weil sie nach Schulwegen von fünf bis zehn Kilometern zu spät zum Unterricht erschienen. Anders als früher werden sie heute dafür nicht mehr bestraft.

Ein Bildungshindernis ist hin und wieder auch schlicht der Hunger. „In meiner Klasse gibt es Kinder, die um fünf Uhr aufstehen, damit sie um halb acht in der Schule sind. Zum Frühstücken ist da keine Zeit. Diese Kinder bekommen bis zum Abend nichts zu essen“, sagt Lewis Daniel, Grundschullehrer in Mangaye. Die Gewerkschaft empfiehlt ein regelmäßiges Mittagessen. Doch das gibt es bisher nur in einer der acht beteiligten Schulen.

Eine spezielle Zielgruppe sind die Massai, nomadische Viehzüchter, die ihre Kinder auf ihren Wanderungen mitnehmen. Im Mittelpunkt ihres Weltbildes steht die Herde. Aber kann das so bleiben? „Wir erklären ihnen, dass ihre Kinder Bildung brauchen, um eine Berufsalternative zu haben, wenn der Klimawandel die Weidegründe weiter austrocknen lässt“, sagt Schuldirektor Hagai Yonna. Im Fall des Massai-Jungen Rachid ist die Überzeugungsarbeit geglückt. Biologie, Geschichte und Politische Bildung seien seine Lieblingsfächer, berichtet der 15-Jährige begeistert. Und dass er einen Traum habe: „Ich möchte Lehrer werden.“

Aus dem Französischen übersetzt von Winfried Dolderer, freier Journalist.