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EGMR zum Beamtenstreikrecht

Ein Urteil gegen die Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat Mitte Dezember 2023 entschieden, das Streikverbot für beamtete Lehrkräfte verstoße nicht gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit. Wie ist die Entscheidung einzuordnen?

Der EGMR hat mit seinem Urteil, das Streikverbot für verbeamtete Lehrkräfte sei rechtens, seine bisherige Rechtsprechung geändert. (Foto: IMAGO/JOKER)

Das Urteil ist deutlich, man kann es nicht schönreden: Danach verstoßen weder das vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2018 ausgesprochene generelle und absolute Streikverbot für Beamtinnen und Beamte im Allgemeinen und beamtete Lehrkräfte im Besonderen noch die konkreten Disziplinarmaßnahmen der vier klagenden Lehrkräfte, die 2009 und 2010 Warnstreikaufrufen der GEW gefolgt waren, gegen das Menschenrecht auf Vereinigungsfreiheit nach Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Das mit 16 Richterstimmen zu einer gefällte Urteil war so nicht zu erwarten. Nach der bisherigen EGMR-Rechtsprechung sind das Recht auf Kollektivverhandlungen und das Streikrecht als Bestandteile der Vereinigungsfreiheit geschützt, Kollektivverhandlungen sogar als wesentliches Element. Artikel 11 Absatz 2 Satz 2 EMRK erlaubt rechtmäßige Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte nur für Angehörige der Streitkräfte, Polizei und Staatsverwaltung. Deshalb hatte der EGMR in seiner ständigen Rechtsprechung entschieden, dass der Beamtenstatus allein ein Streikverbot nicht rechtfertigen könne und Einschränkungen nur für die hoheitliche Staatsverwaltung möglich seien, zu der Lehrkräfte aber nicht gehören. So sehen es auch das gesamte Arbeitsvölkerrecht und die für die Auslegung zuständigen Gremien wie der UN-Menschenrechts- und der UN-Sozialpaktausschuss oder die International Labour Organization (ILO).

Widersprüche nur notdürftig kaschiert

Im Vertrauen darauf hatte die GEW angestellte wie beamtete Lehrkräfte zu befristeten Arbeitsniederlegungen aufgerufen und, nachdem beamtete Kolleginnen und Kollegen, die gestreikt hatten, mit Disziplinarmaßnahmen sanktioniert worden waren, Rechtsschutz für verwaltungs- und verfassungsrechtliche Verfahren, schließlich für die Menschenrechtsbeschwerde vor dem EGMR gegeben.

Die Richterinnen und Richter am EGMR formulierten in ihrer Urteilsbegründung dagegen, dass die Frage, ob ein Streikverbot ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit beeinträchtigt, kontextspezifisch und nicht durch eine isolierte Betrachtung des Streikverbots zu beantworten sei. Die Gesamtheit staatlicher Maßnahmen sei zu berücksichtigen, betonten sie. Dieser Ansatz ermöglicht, dass auch Fragen und Themen in die Beurteilung einfließen, die mit dem Streikrecht wenig bis nichts zu tun haben.

Dazu zählen für das Gericht gesetzliche Anhörungsrechte gewerkschaftlicher Spitzenorganisationen, das Personalvertretungsrecht, eine gute Verwaltung, die Bildungspolitik sowie Vorzüge des Beamtenstatus bei der Nettobezahlung sowie der Gesundheits- und Altersversorgung. Diese Rechte, so der EGMR, seien für Lehrkräfte an staatlichen Schulen in Deutschland stärker ausgeprägt als in anderen Staaten, die dem Europarat angehören. In diesem Zusammenhang genannt wird auch die Möglichkeit, nicht als Beamte, sondern als angestellte Lehrkräfte mit Streikrecht zu arbeiten – ohne große Nachteile zu haben.

Manche Widersprüche im Urteil werden in dessen Begründung durch die Richterinnen und Richter nur notdürftig kaschiert: Der gegen Streiks angeführte hohe Stellenwert der Schulbildung etwa trifft angestellte wie beamtete Lehrkräfte gleichermaßen: Er hat nichts mit dem Status zu tun. Da sich das Streikverbot jedoch auf den Status bezieht, gilt es auch nur für Beamtinnen und Beamte – und zwar für alle unabhängig davon, ob sie hoheitliche Tätigkeiten ausüben oder nicht wie in der Schule. Steht das materielle Niveau der Beamtenversorgung dem Streikrecht entgegen? Ist die Geringfügigkeit konkreter Disziplinarmaßnahmen ein Argument, um ein kollektives Menschenrecht zu negieren, wenn das Streikverbot nicht nur konkrete Beschwerdeführerinnen und -führer, sondern alle Beamtinnen und Beamten in Schulen, Dienststellen und Betrieben und ihre Gewerkschaften trifft?

Urteil könnte Begehrlichkeiten wecken

Vor allem aber verwickelt sich der EGMR mit der Entscheidung vom Dezember 2023 in einen Widerspruch zu seiner früheren Rechtsprechung: 2009 hatte der Gerichtshof geurteilt, dass Disziplinarstrafen gegen Beamtinnen und Beamte in der Türkei, die dort an einem Aktionstag des Türkischen Dachverbands der Gewerkschaften teilgenommen hatten, eine Verletzung des Artikels 11 EMRK darstellten. Bedeutet das aktuelle Urteil nun, dass das Streikrecht in dem einem Land durch Artikel 11 EMRK wesentlich geschützt ist, in einem anderen nicht? Könnten die Türkei und andere Staaten, wenn sie Elemente des deutschen Beamtenrechts übernehmen, künftig kollektive Rechte ihrer Beamtinnen und Beamten und Gewerkschaften wieder beseitigen? Das ist ein gefährlicher Weg, der Begehrlichkeiten in wenig demokratisch strukturierten Ländern wecken kann.

Das Urteil des BVerfG war eine Herausforderung, wenn nicht Kampfansage an den EGMR, mit Formulierungen, dieser müsse Entscheidungen „kontextualisieren, … möglichst schonend in das vorhandene nationale Rechtssystem einpassen, … gegen eine unreflektierte Adaption völkerrechtlicher Begriffe … eine undifferenzierte Übertragung i. S. einer bloßen Begriffsparallelisierung ...“. Hier hatte die GEW eine klare Antwort des EGMR erwartet, dass die Menschenrechte Vorrang haben. Diese blieb aus. Der EGMR betonte zwar, dass ein Vertragsstaat völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht unter Hinweis auf seine eigene Verfassung ausweichen dürfe, zog daraus aber keine Konsequenzen. Im Ergebnis knickte er vor dem BVerfG und dem gleichlautenden Vortrag der Bundesregierung ein.

Die schärfste Kritik an dem Urteil kommt aber aus dem Gerichtshof selbst: Richter Georges Ravarani (Luxemburg) schloss sich dem Mehrheitsvotum an, missbilligte aber in einer gesonderten Erklärung alle Begründungselemente der Mehrheit. In seiner „concurring opinion“ stützt er sich allein auf ein Wahlrecht der Bewerberinnen und Bewerber zwischen Beamten- und Angestelltenstatus, das es jedoch nach den Verwaltungsgesetzen des Bundes und der Länder sowie der Feststellung des BVerfG gar nicht gibt. Und Richter Georgios Serghides (Zypern), der sich der Entscheidung seiner 16 Kolleginnen und Kollegen nicht anschloss und gegen das Urteil stimmte, bedauert in seinem Minderheitenvotum, dass die vier Beschwerdeführerinnen und -führer nicht den Schutz der Menschenrechtskonvention erhalten haben, der ihnen zustehe. Zudem legt er strukturelle und systematische Mängel der Entscheidung offen.

Artikel 11 Absatz 2 Satz 2 EMRK ist die Spezialregelung für rechtmäßige Einschränkungen der Ausübung des Menschenrechts auf Vereinigungsfreiheit im öffentlichen Dienst – diese gelten aber lediglich für Beschäftigte der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung. Diesem begrenzten Katalog wurde nun mit Billigung des EGMR eine weitere Kategorie hinzugefügt: Beamtinnen und Beamte in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem im Schulwesen. Zur Erinnerung: Menschenrechte haben den Anspruch, universell und für alle gleich zu gelten!