Bundestagswahl 2021
Die Pädagogik verliert
Nach der Reform des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII zur Verbesserung der Kinder- und Jugendhilfe drohen für Beschäftigte trotz einzelner Fortschritte erhebliche Konsequenzen. GEW-Vorstandsmitglied Björn Köhler befürchtet eine Deprofessionalisierung.
Nach jahrelangen Debatten und einem gescheiterten ersten Anlauf benötigte der Bundestag nur eine halbe Stunde für die Abstimmung: Eine große Mehrheit der CDU-SPD-Koalition und der Grünen votierte Ende April für ein neues Kinder- und Jugendstärkungsgesetz im SGB VIII. Die FDP enthielt sich, Linke und AfD waren dagegen. Auch der Bundesrat stimmte der umfassenden Reform Anfang Mai ohne lange Aussprache zu – forderte die Bundesregierung allerdings auf, dauerhaft einen Ausgleich der erheblichen Mehrkosten für Länder und Kommunen zu schaffen.
Mit der Reform sollen nach den Vorstellungen der Bundesregierung Kinder und Jugendliche in Heimen, Pflegefamilien oder einem schwierigen Lebensumfeld besser geschützt und unterstützt, Einrichtungen stärker kontrolliert werden und Kinder dauerhaft in Pflegefamilien bleiben können. Ombudsstellen und Verfahrenslotsen sollen künftig mehr Orientierung in der Jugendhilfe bieten, Hilfen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gebündelt werden. Die Inklusion wird als Leitgedanke der Kinder- und Jugendhilfe etabliert, eine gemeinsame Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung generell verankert. Allerdings wird Behinderung dabei fast ausschließlich als Exklusionsfaktor verstanden.
Halbherzige Reform
Die Neuregelung war eines der wichtigsten Projekte der früheren Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD): Sie betrifft mehr als eine Million Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebensverhältnissen und Hunderttausende junge Menschen mit einer Behinderung. Die GEW hat die Reform aus der Perspektive der Fachkräfte viele Jahre intensiv begleitet. Heute sieht Björn Köhler, GEW-Vorstandsmitglied für -Jugendhilfe und Sozialarbeit, die Ergebnisse mit gemischten Gefühlen: „Es ist gut, dass das Gesetz die Lage der Beschäftigten in den Blick nimmt“, sagt er. „Allerdings bleibt die halbherzige Reform hinter unseren Erwartungen zurück: Die Ziele sind noch nicht erreicht.“ Nur wenige Vorschläge von Fachleuten sowie kritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern seien umgesetzt worden. „Das Gesetz ist auch Ausdruck eines Steuerungs- und Kontrollbedürfnisses der Politik“, sagt Köhler. „Die Pädagogik verliert.“
„Die Bundesregierung muss sich bewusst sein, dass sie höhere Kosten, größere Personalbedarfe sowie mehr Fort- und Weiterbildungsanforderungen produziert.“ (Björn Köhler)
Dem Mehraufwand an Bürokratie folge auch ein größerer Kostendruck. „Die Bundesregierung muss sich bewusst sein, dass sie höhere Kosten, größere Personalbedarfe sowie mehr Fort- und Weiterbildungsanforderungen produziert“, mahnt Köhler. „Viele dieser Kostenfolgen wurden bislang nicht wirklich bedacht.“ So würden Berufe etwa in den Jugendämtern und in den Hilfen zur Erziehung für den Nachwuchs nicht attraktiver. Als problematisch gilt bei den Hilfen zur Erziehung die stärkere Einbeziehung des nahen Sozialraums – etwa von freien Trägern und Ehrenamtlichen in Notsituationen – ohne Antrag und ohne Amt. „Mit diesem Paradigmenwechsel droht eine Deprofessionalisierung der Leistungsstrukturen“, warnt Köhler. „Der Sozialraum wird zum schwer überwindbaren Vorzimmer des Jugendamtes.“
Unverständlich seien auch die neu geschaffenen Meldeverfahren beim Kinderschutz: Nicht nachvollziehbar sei, warum Ämter nur an Ärztinnen und Ärzte sowie Lehrkräfte rückmelden sollen, nicht aber an Erzieherinnen und Erzieher sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. „Eine Fachkraft der Kinder- und Jugendhilfe wird entmündigt, aber der präventive Kinderschutz nicht verbessert.“ Auch an anderen Stellen des Gesetzes werde ein negatives Bild der Fachkräfte deutlich. Die GEW werde die Veränderungen kritisch begleiten und auf die Umsetzung bisher ausgeklammerter Themen drängen. „Diese Reform“, so Köhler, „muss reformiert werden.“