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Kinderrechte und Kinderarmut

Warum Kinderarmut krank macht

Kinder aus armen Verhältnissen haben häufig mit psychischen Problemen zu kämpfen, die aus ihrer prekären Lage resultieren. Es braucht weitreichende Unterstützungsangebote, um ihnen zu helfen.

Cartoon: Freimut Woessner

Die neuesten Zahlen der Bertelsmann Stiftung zeigen ganz klar: Die Kinderarmut in Deutschland ist weiter auf einem skandalösen Niveau: 2,88 Millionen Kinder und Jugendliche, die jünger als 18 Jahre sind, gelten als armutsgefährdet. Von klein auf sind sie Diskriminierungen ausgesetzt und erleben Gefühle der Scham und der Ausgrenzung. Für einen Großteil von ihnen wird Armut später zu einem dauerhaften Zustand, der sie ein ganzes Leben lang begleitet. Gleichzeitig sind die Gefahren eines sozialen Abstiegs als Folge multipler Krisen gewachsen. So sind beispielsweise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die Lebenshaltungskosten stark gestiegen, und auch die Covid-19-Pandemie wirkt sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt negativ auf die Ökonomie aus.

Die Symptome reichen dabei von Schlafstörungen und Einsamkeitsgefühlen bis hin zu Depressionen.

Zwar wird beim Thema Kinderarmut häufig über den materiellen Mangel oder fehlende gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen gesprochen, die damit zusammenhängenden psychischen Belastungen werden dagegen in der öffentlichen Diskussion weit weniger thematisiert. Dabei zeigt eine Erhebung des Robert Koch-Instituts (RKI), dass bei Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Einkommen im Vergleich zu Gleichaltrigen aus der mittleren beziehungsweise hohen Einkommensgruppe häufiger psychische Auffälligkeiten auftreten. Besonders deutlich wird diese Diskrepanz nach der Covid-19-Pandemie, Schulkindern aus armen Haushalten geht es heute viel schlechter als Gleichaltrigen aus ökonomisch abgesicherten Verhältnissen. Die Symptome reichen dabei von Schlafstörungen und Einsamkeitsgefühlen bis hin zu Depressionen.

Stigmatisierungen und Schamgefühle

Sozioökonomisch benachteiligte Kinder sind von vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen und erfahren häufig eine schlechtere gesundheitliche Versorgung. Zudem haben sie im Bildungssystem nicht die gleichen Chancen wie andere Kinder. Darüber hinaus sind sie häufig klassistischen Stigmatisierungen oder stereotypen Zuschreibungen ausgesetzt, die gesellschaftlich tief verankert sind. Eine weitläufige Unterstellung lautet etwa, dass Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger den Sozialstaat bewusst ausnutzten, um nicht arbeiten zu müssen. Durch Vorurteile wie diese, die dann auch auf die Kinder übertragen werden, wird die Verantwortung für die Lebenssituation einseitig auf das Individuum, im Falle von Kinderarmut also auf die Eltern und nachfolgend die Kinder, abgeschoben.

Damit verbunden sind für viele Kinder Gefühle tiefer Scham und Ausgrenzung, wie die Bertelsmann-Studie zeigt. Arme Kinder können beispielsweise selten Freundinnen und Freunde nach Hause einladen, da es an geeignetem Wohnraum mangelt. Für Geburtstagsgeschenke, Klassenfahrten oder Freizeitangebote fehlen häufig die finanziellen Mittel. Unterstützung gibt es nur auf Antrag, der stigmatisiert, weil die Kinder und ihre Familien intime Fragen über ihre Lebensverhältnisse beantworten müssen. Um mit den daraus resultierenden Schamgefühlen umgehen zu können, entwickeln viele Kinder bereits früh Vermeidungsstrategien und melden sich beispielsweise krank oder erfinden Ausreden.

Armut bedeutet nicht nur, ökonomisch benachteiligt zu sein; für finanziell benachteiligte Kinder ist auch der Zugang zum kulturellen Leben und zu digitalen Teilhabemöglichkeiten schwierig. 

Sozioökonomisch benachteiligte Kinder fühlen sich so schon in jungen Jahren der Gesellschaft wenig zugehörig. Studien zeigen zudem, dass sie auch häufig körperliche und emotionale Gewalt erleben müssen. Außerdem wird das in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verankerte Recht auf Beteiligung (Artikel 12) durch die ungleichen sozioökonomischen Ausgangslagen eingeschränkt. Denn Armut bedeutet nicht nur, ökonomisch benachteiligt zu sein; für finanziell benachteiligte Kinder ist auch der Zugang zum kulturellen Leben und zu digitalen Teilhabemöglichkeiten schwierig. Zudem haben sie schlechtere Chancen auf Erfolg im Schulsystem und damit auf ihrem weiteren Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitsweg.

Stärkung der psychischen Gesundheit

In einer gemeinsamen Stellungnahme fordern das Deutsche Kinderhilfswerk sowie verschiedene Verbände für Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. -psychotherapie deshalb einen stärkeren Fokus auf Fragen der psychischen Gesundheit und der Resilienzförderung im Bildungssystem. Die Vorschläge zur Prävention psychischer Erkrankungen haben vor dem Hintergrund der Kinderarmut und gesellschaftlicher Ausgrenzungen besondere Brisanz. Gefordert wird in dem Appell unter anderem weniger Leistungsdruck sowie Zeit und Raum für den gemeinsamen Austausch in den Bildungsinstitutionen.

Dafür braucht es beispielsweise eine multiprofessionelle Ausstattung der Schulen sowie die Kooperation der Lehrkräfte mit Schulsozialarbeitenden, Gesundheitsfachkräften sowie Schulpsychologinnen und -psychologen, an die sich Kinder bei Ängsten und Sorgen wenden können. Diese können im Zweifelsfall in Rücksprache mit Therapeutinnen und Therapeuten, die auf Kinder und Jugendliche spezialisiert sind, in weiterführende Angebote vermitteln.

Nicht erst durch die Covid-19-Pandemie ist deutlich geworden, dass es Engpässe bei der kinder- und jugendpsychotherapeutischen bzw. -psychiatrischen Versorgung gibt. Ein Vorschlag lautet deshalb, dieses Problem durch kleinere Versorgungsgebiete und zusätzliche Praxen anzugehen. Vorstellbar ist zudem, dass sich mehrere Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen bzw. -therapeuten einen Kassensitz teilen, wenn sie nicht in Vollzeit tätig sind. Eine kurzfristige Entlastung könnte ebenso durch die zeitlich begrenzte Abrechnungsmöglichkeit ohne Kassensitz erreicht werden.

Es braucht eine großangelegte Strategie, um Kinderarmut erfolgreich zu bekämpfen.

Vor dem Hintergrund dieser Forderungen, die vor allem auf die psychische Gesundheit der Kinder zielen, ist es jedoch wichtig, dass die soziale Absicherung sozioökonomisch benachteiligter Kinder verbessert wird.

In dem Kernforderungspapier „Gleiche Teilhabechancen für armutsbetroffene Kinder“ plädiert das Deutsche Kinderhilfswerk deshalb unter anderem für eine bedarfsgerechte Berechnung des Existenzminimums der Kinder sowie die Einführung einer finanziell gut ausgestatteten Kindergrundsicherung. Dadurch könnte ein System der Familienförderung geschaffen werden, das soziale Ungleichheiten abbaut, statt diese noch zu verstärken. Hier liegt ein wichtiger Anker, das häufig generationenübergreifende Problem der Kinderarmut nachhaltig zu bekämpfen.