Startchancen-Programm
Die Euphorie des Aufbruchs ist verflogen
Das Startchancen-Programm zählt neben der Kindergrundsicherung zu den ambitioniertesten Bildungsprojekten der Ampel-Regierung. Doch strittig ist der Umfang der Finanzierung: Und auch die Länder zaudern beim Geld.
Das jüngste schlechte deutsche Abschneiden beim IGLU-Grundschultest (Internationale Grundschule-Lese-Untersuchung) hat den Druck auf Bund und Länder erhöht, sich nach langem politischen Tauziehen über das im Koalitionsvertrag der Bundesregierung angekündigte Startchancen-Programm zu verständigen. Trotz Annäherungen ist der Dissens nach wie vor groß. Dabei fallen die Bundesmittel allenfalls nur noch halb so hoch aus wie zunächst nach den Koalitionsverhandlungen 2021 von SPD, Grünen und FDP euphorisch erhofft. Und die Länder halten sich bei der Frage nach ihrer Eigenbeteiligung nach wie vor auffällig zurück.
„Sonst bleibt es ein Tropfen auf den heißen Stein.“ (Anja Bensinger-Stolze)
GEW-Vorstandsmitglied Anja Bensinger-Stolze kritisiert, dass selbst der inzwischen auf eine Milliarde Euro abgespeckte Beitrag des Bundes nicht gänzlich gesichert sei und immer noch „unter Haushaltsvorbehalt“ stehe. Zugleich dürften die Länder, die bereits eigene Landesprogramme für Schulen in sozial schwierigen Lagen angestoßen haben, das erwartete zusätzliche Bundesgeld nicht zum Anlass für eine Kürzung ihrer bisher eingesetzten eigenen Mittel nehmen. Bensinger-Stolze befürchtet: „Sonst bleibt es ein Tropfen auf den heißen Stein.“
Nach den äußerst schlechten nationalen Ergebnissen des im Oktober 2022 veröffentlichten Grundschul-Bildungstrends des ländereigenen Instituts zur Qualitäts-entwicklung im Bildungswesen (IQB) hatte bei der aktuellen internationalen IGLU-Studie niemand Wunder erwartet. Dass die Ergebnisse aber noch alarmierender als befürchtet ausfielen, löste dann doch turbulente Reaktionen in der Öffentlichkeit aus. Die IGLU-Kernbotschaft: Mehr als jeder vierte Viertklässler (25,4 Prozent) kann nicht flüssig genug lesen, um sich selbstständig Wissen anzueignen und die Texte inhaltlich zu verstehen. 2001 – im Jahr des ersten deutschen „PISA-Schocks“ – betrug laut der damals nahezu gleichzeitig erhobenen ersten IGLU-Studie die Zahl dieser sogenannten Risikoschülerinnen und -schüler 17 Prozent. Erneut belegt die aktuelle IGLU-Untersuchung die extrem hohe Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialem Hintergrund in Deutschland.
Unerfüllte Versprechen
Unterdessen hört man jetzt seit mehr als zwei Jahrzehnten von den Kultusministern mit jeder neuen Veröffentlichung einer PISA-, IGLU- oder IQB-Studie nahezu gleichlautend das Versprechen: „Vorrangiges Ziel unserer Bildungspolitik bleibt, den engen Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Deutschland zu entkoppeln.“ Bislang leider folgenlos. Zwar gibt es inzwischen in einigen Ländern regionale Programme wie „Starke Schulen“ in Hamburg, „Perspektivschulen“ in Schleswig-Holstein oder „Talentschulen“ in Nordrhein-Westfalen. Doch in den bundesweiten Bilanzen der jüngsten Studien schlagen sich diese Aktivitäten bisher nicht nieder. Vielfach steht auch eine Evaluierung der Programme noch aus.
Der Ampel-Koalitionsvertrag weckte viele Hoffnungen: „Mit dem neuen Programm Startchancen wollen wir Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern ermöglichen. Wir werden mehr als 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler besonders stärken.“ Und weiter: „Über dieses Programm hinaus werden wir weitere bis zu 4.000 Schulen in benachteiligten Regionen und Quartieren gezielt und dauerhaft mit zusätzlichen Stellen für schulische Sozialarbeit unterstützen.“
Zähes Ringen zwischen Bund und Ländern
Zunächst hatten die Ampel-Koalitionäre dafür zwei Milliarden Euro Bundesgeld jährlich eingeplant. Die gleiche Summe sollten die Länder noch mal drauflegen. Doch die Euphorie des Aufbruchs und des Neuanfangs war schnell verfolgen. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) tat sich zunächst sichtlich schwer, überhaupt in die Gänge zu kommen und ein Konzept vorzulegen. Dann folgten Pandemie, Ukraine-Krieg und Energiekrise. Sie engten den finanziellen Spielraum des Bundes gewaltig ein. Übrig blieb letztlich die Zusage des Bundesfinanzministers Christian Lindner (FDP) über eine Milliarde Bundesgeld für das Programm pro Jahr. Gleichzeitig soll Stark-Watzinger aber auch eine halbe Milliarde Euro in ihrem Gesamtetat für Bildung und Forschung einsparen.
Nach monatelangen zähen Gesprächen zwischen Kultusministerkonferenz (KMK) und Bundesministerium gibt es inzwischen einige inhaltliche Annäherungen: So ist man sich in dem Ziel einig, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler an den geförderten Schulen, die die Mindeststandards der KMK nicht erreichen, binnen zehn Jahren halbiert werden soll. Dabei soll es nicht nur um die schulischen Leistungen gehen, sondern auch um die soziale Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen. Die Auswahl der Schulen soll den Ländern obliegen. Schulleitungen in Brennpunktschulen sollen vom jeweiligen Landesministerium „Orientierungshilfen“ erhalten, wie die Gelder eingesetzt werden. Der Bund verlangt von den Ländern die Garantie, dass ihre bereits bestehenden Programme zur sozialen Förderung durch das Bundesgeld „nicht substituiert“ werden.
GEW: Geld nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilen
GEW-Schulexpertin Bensinger-Stolze begrüßt, dass der Bund bei den schwierigen Verhandlungen inzwischen darauf pocht, dass das Geld „nicht nach dem Gießkannenprinzip“ wie beim „Königsteiner Schlüssel“ über alle Bundesländer hinweg verteilt wird, sondern Förderschwerpunkte in Problemregionen gesetzt werden – dort, wo die Hilfe besonders dringend benötigt wird. Dies fordert die GEW schon seit langem und hat dafür von der Wissenschaft ein alternatives sozialindiziertes Konzept erstellen lassen. Kriterien sind unter anderem der Anteil der unter 15-Jährigen, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II erhalten, die Arbeitslosenquote und die Armutsgefährdetenquote. Berücksichtigt werden sollen auch der Anteil der Erwachsenen ohne beruflichen Bildungsabschluss und der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund, die jünger als 18 Jahre sind.
Der „Königsteiner Schlüssel“ hingegen richtet sich zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen eines Landes und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl. Dies würde für das Startchancen-Programm bedeuten, dass ohnehin reiche Länder wie Bayern und Baden-Württemberg überproportional von dem Bundesgeld profitieren und zum Beispiel für Bremen und Berlin kaum eine nennenswerte Summe übrigbleibt.
Ein mühsam unter den Ländern erzielter Kompromiss sah zwar für Bremen einen kleinen Zuschlag vor – was aber deutlich zu wenig ist. Die neue KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU) deutete in dieser Frage gegenüber dem Mediendienst „Table Bildung“ Gesprächsbereitschaft an, sofern „der Bund auch ein paar Schritte auf uns zugeht“. Ein Ergebnis lag bei Drucklegung dieser E&W-Ausgabe noch nicht vor.