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Queer in der Bildung

„Der erste Kontakt muss gut sein“

Seit der Ehe für alle und dem neuen Adoptionsrecht ist die Zahl der Regenbogenfamilien in Deutschland gestiegen. In Familienzentren finden diese Angebote, die auf sie zugeschnitten sind. Ein Besuch in zwei Einrichtungen in Berlin.

Lena* fängt gerade an, ein wenig wegzudösen. Seit zehn Uhr krabbelt sie mit Aaron* und Finn* auf den bunten Matten, spielt mit Bällen, Bauklötzen und dem grün-grauen Müllauto, das fast so groß ist wie sie selbst. „Na, müde?“, fragt ihre Mutter Steffi, lacht und hebt das neun Monate alte Mädchen auf ihren Schoß. Einer von Lenas kleinen Kumpels sitzt schon wieder eingemummelt im Kinderwagen. „Tschüss“, ruft Steffi und lässt sich mit ihrer Tochter in einen grauen Sessel in der Sitzecke sinken. Heute gibt es das Mittagessen hier, Stillpause.

Berlin-Schöneberg, ein Mittwoch Ende April. Im Regenbogenfamilienzentrum Cheruskerstraße ist es ruhig. Der Duft von Kräutertee zieht durch das fröhliche Spielzimmer, das aussieht wie in Familienzentren überall in der Republik: Spielmatten, Kugelbahnen, Bälle, Puppen, bunte Tücher. Doch manches findet man anderswo selten: Bilderbücher wie „Daddy, Papa, and me“; Flyer wie „Trans mit Kind“; ein Bild von einem schwangeren Seepferdchenmann an der Wand. Steffi liebt diesen etwas anderen Blick, die Selbstverständlichkeit von Vielfalt. Familien mit zwei Mamas, zwei Papas, einer Mama und zwei Papas, einem Papa, zwei Mamas, lesbisch, schwul, trans … egal. „Ich will, dass meine Kinder von Anfang an als selbstverständlich erleben, was für sie Alltag ist: Es gibt viele Formen von Familie und ihre ist eine davon.“ Gerade jetzt, da Olli*, Steffis Dreijähriger, zu verstehen beginnt, dass nicht jeder zwei Papas hat wie er: Papa und Vati. Na und? Ist doch toll.

„Zum einen bieten wir einen Schutzraum. Zum anderen gibt es viele spezifische Fragen, die sich nicht einfach ergooglen lassen.“ (Lisa Haring)

Seit der Ehe für alle und dem neuen Adoptionsrecht, das auch homosexuellen Paaren ermöglicht, Kinder zu adoptieren, ist die Zahl der Regenbogenfamilien in Deutschland gestiegen. Bundesweit gibt es daher zunehmend spezielle Beratungszentren und Familienbildungsangebote, die auf diese Zielgruppe zugeschnitten sind. „Zum einen bieten wir einen Schutzraum“, sagt Lisa Haring, Leiterin des Regenbogenfamilienzentrums Berlin. „Zum anderen gibt es viele spezifische Fragen, die sich nicht einfach ergooglen lassen.“ Wie geht eine Stiefkindadoption, wie lässt sich das Sorgerecht bei mehreren Eltern aufteilen, welche Erfahrungen mit Rechtsprechung und Ämtern machen junge Regenbogenfamilien? Zudem: „Es geht auch um Familien, die hetero aussehen.“ Ein Trans-Mann etwa, der mit einer Cis-Frau zusammenlebt, sich aber trotzdem durch die Fallstricke des deutschen Abstammungsrechts hangeln muss, das seine Vaterschaft nicht anerkennt, weil in seiner Geburtsurkunde „weiblich“ steht.

Erstes Regenbogenfamilienzentrum in Berlin

2013 wurde das Regenbogenfamilienzentrum eröffnet, angesiedelt beim Lesben- und Schwulenverband (LSVD) Berlin-Brandenburg. Es gibt einen Strauß von Beratungsangeboten und viele unterschiedliche Gruppen. Von einem TIN**-Familientreff für trans, inter und nicht-binäre Eltern, über eine BPoC***-Regenbogenfamilienrunde bis zu Menschen jener Krabbelgruppe für Regenbogenfamilien, die sich mittwochs trifft. Normalerweise kommen um die zehn Menschen mit Nachwuchs. Weil heute Presse da ist, bleiben viele weg. Sie wollen nicht in der Zeitung stehen, sich nicht erklären müssen, schon wieder, nicht auf diesen Blick reduziert werden: Regenbogenfamilie, wie ungewöhnlich, wie macht ihr das denn? Und es ist gerade diese Vorsicht, die zeigt, wie wichtig dieser Schutzraum ist, wie wenig selbstverständlich Familien jenseits der klassischen Modelle sind.

Austausch wichtig

Schlechte Erfahrungen hat Steffi bisher noch nicht gemacht. Aber sie schätzt den Austausch mit Menschen, die alle Ähnliches durchgemacht haben. Von der sexuellen Selbstfindung über das Outing bis zur Frage: Will ich Familie und wie? Wie machen wir es mit dem Sorgerecht, passen unsere Vorstellungen von Familienleben und Erziehungswerten zueinander? Die Beratung im Regenbogenfamilienzentrum hat ihr geholfen, als sie vor fünf Jahren mit einem schwulen Unifreund und dessen Partner überlegte, eine Familie zu gründen. Diese sind jetzt die Väter ihrer beiden Kinder.

Und jetzt, da Olli und Lena da sind, ist es schön, hier mit anderen genauso über Windeln, Stillen und Erziehungsfragen sprechen zu können, wie über besondere Belastungen als Regenbogenfamilie. „Als Olli in der Kita eine unruhige Phase hatte, machte ich mir Sorgen, gefragt zu werden: Gibt es besonderen Stress zu Hause mit eurer Konstellation?“, sagt Steffi. „Die Sorge fand zwar nur in meinem Kopf statt, aber es war wichtig, darüber reden zu können.“ Gerade ist die 37-jährige Ärztin in Elternzeit. Gern fährt sie daher auch zu anderen Familienzentren, die Gruppen für Regenbogenfamilien anbieten. Gut zehn sind das mittlerweile in Berlin.

„Viele Einrichtungen sind offen, aber unterschätzen, was es braucht, damit sich die Eltern willkommen fühlen.“ (Saskia Ratajszczak)

Familienzentrum Schivelbeiner Straße, Prenzlauer Berg. Es duftet nach frischem Waffelteig und geschmolzener Schokolade. Das Regenbogencafé füllt sich. Maurice1 und Lars1 sind überglücklich: Ihr Sohn Moritz1 schlängelt sich durch den Stofftunnel auf dem Boden. Gerade ist der Adoptionsbescheid durch. Ein anderer Mann wartet noch darauf. „Wie ist das bei euch gelaufen?“ Corinna ist mit ihrer Frau Julia und dem kleinen Paul gekommen, genüsslich taucht er gerade ins Bällebad. „Es ist toll, dass hier so oft beide Eltern da sind“, sagt Corinna. Queere Freunde hat sie viele, aber wenige mit Kind. „Hier treffe ich supernette Leute mit einer ähnlichen Geschichte.“ Sie liebt die internationale Mischung, die „freundliche, positive Dynamik der Gruppe“. Die Möglichkeit, mal „ohne diesen nervigen Outingmoment mit anderen Eltern sprechen zu können“. Über den Alltag mit Kind, über Tipps für eine Kita, die offen für Regenbogenfamilien ist. Über Ideen für eine schlagfertige Antwort, wenn sie mal wieder blöd auf der Straße angemacht wird, wie neulich: Ach, kein Vater da? Wie wär‘s mit mir? „Und ohne Gruppen wie diese wäre es für Paul viel langweiliger.“

So hat sich Marion Scheidler das vorgestellt. Schon als das Familienzentrum in Kooperation mit der Kita nebenan 2018 eröffnete, hatte die neue Leiterin das Zentrum zu einem Ort machen wollen, der ausdrücklich alle Familien anspricht. Aber wie gewinnt man Regenbogenfamilien? Scheidler fand Unterstützung bei Saskia Ratajszczak vom Regenbogenfamilienzentrum in Schöneberg. Sie berät Zentren in ganz Berlin beim Aufbau von Angeboten und bietet Fortbildungen für Fachkräfte an. „Viele Einrichtungen sind offen, aber unterschätzen, was es braucht, damit sich die Eltern willkommen fühlen.“

„Ein Angebot speziell für diese Gruppe ist gut, damit sich die Eltern vortasten können.“

Zum Beispiel eine Ansprache, die eine Vielfalt von Familienbildern mitdenkt. In Fotos auf Flyern und Materialien; in Bilderbüchern und Spielsachen; in der Art, wie das Team mit den Kindern über Familie spricht. Statt zu fragen: „Was macht dein Papa?“ Lieber: „Was machen deine Eltern?“ Ratajszczak: „Ein Angebot speziell für diese Gruppe ist gut, damit sich die Eltern vortasten können: Wie ist das Klima in der Einrichtung, wie reagieren andere Eltern auf uns? Entscheidend: Der erste Kontakt muss ein guter sein.“ Brücken bauen nennt sie das.

Wie viel Spezifisches braucht es, wie viel Inklusion ist wichtig?

Scheidler und ihr Team haben das längst verinnerlicht. Das Personal ist geschult, im Regal stehen Bücher wie „Märchenland für alle“, „Zwei Mamas für Oscar“ oder „Wer hat schon eine normale Familie?“. Die Frage: „Und wie habt ihr das mit dem Kinderkriegen gemacht?“ ist, klar, tabu. Bei jedem Regenbogencafé ist Ratajszczak mit an Bord, berät fachlich in Rechts- und Erziehungsfragen, hilft bei Austausch und Netzwerken.

Manchmal verirren sich andere Eltern aus der benachbarten Kita ins Regenbogencafé. Anfangs verstanden manche den Begriff miss: klingt lustig, ein bunter Treff. „Natürlich schicken wir sie dann nicht weg.“ Leiterin Scheidler lacht: „Dennoch ist das Angebot ein Schutzraum, insofern erstmal exklusiv gedacht.“ Doch letztlich ist das nur ein erster Schritt. Die Verbindungen, das Kennenlernen, die Offenheit sind gewünscht. Auf Festen, Ausflügen und in den Kursen für alle, die Corinna, Julia und Paul längst zusätzlich besuchen.

Katharina Haverkamp vom Träger Stützrad gGmbH sagt: „Wir müssen immer wieder abwägen: Wie viel Spezifisches braucht es, wie viel Inklusion ist wichtig?“ Beraterin Ratajszczak: „Solange Vielfalt in unserer Gesellschaft noch nicht wirklich für alle selbstverständlich ist, bleiben Angebote für spezielle Gruppen wichtig.“ Nicht zufällig will die Schwulenberatung Berlin im Sommer die erste Kita der Vielfalt aufmachen – offen für alle, aber queere Familien besonders im Blick.

Scheidler klatscht in die Hände. Abschlussrunde auf den Matten. Xylophon, Trommeln und Rasseln werden verteilt, ein buntes kreisrundes Tuch wird aufgespannt. Kinder quietschen, Babys krabbeln, Eltern singen. „Wind, Wind, Wind, Wind, fröhlicher Gesell …“. Familien wie anderswo auch. Was auch sonst? 

*Namen geändert

**TIN = Trans, Inter und Nicht-Binär

***BPoC = Black and People of Color