Rat für Migration
Debatte zum Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Schule
Mit einem Reformvorschlag zum Abbau von Diskriminierung mehrsprachig aufwachsender Schülerinnen und Schüler startet ein neues Debattenformat des Rats für Migration. Die GEW begrüßt die Impulse zur Anerkennung migrationsbedingter Mehrsprachigkeit.
„Drei Sprachen sind genug fürs Abitur!” – mit diesem Beitrag hat der Rat für Migration ein neues Debattenformat eröffnet. Er umfasst einen weitreichenden Reformvorschlag, um Benachteiligungen mehrsprachig Aufgewachsener bei Schulabschlüssen abzubauen und die „Zwei-Klassen-Mehrsprachigkeit” im deutschen Schulsystem zu überwinden. Die GEW begrüßt diesen Reformvorschlag, da sich auch die GEW seit vielen Jahren dafür einsetzt, Mehrsprachigkeit zu fördern und die strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für den herkunftssprachlichen Unterricht zu verbessern.
Der Impulsbeitrag zur Debatte um Mehrsprachigkeit an Schulen stammt von Dita Vogel von der Universität Bremen. Die Sozialwissenschaftlerin plädiert mit Blick auf geltende Sprachenanforderungen bei Schulabschlüssen für eine Gleichstellung aller Sprachen sowie einen weitreichenden Rechtsanspruch auf Unterricht und Prüfungen auch in Herkunftssprachen. Ihren Reformvorschlag entfaltet sie anhand realer Fallbeispiele aus dem Projekt „Transnationale Mobilität in Schulen„ (TraMiS), zu dessen Kooperationspartnerinnen auch die GEW gehört. Vogels Ziel ist es, Diskriminierungen mehrsprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher im Schulsystem aufzuzeigen und abzubauen.
„Mit der Abschaffung der Diskriminierung durch Fremdsprachenanforderungen bei Schulabschlüssen würde eine Hürde für Schulabschlüsse wegfallen.” (Dita Vogel)
Vogel diagnostiziert, dass für jene mit familiär erworbenen Kenntnissen in anderen Sprachen als Deutsch oder den regulär unterrichteten und prüfungsrelevanten Fremdsprachen nur selten ein passendes Angebot bereit stünde. Auch wenn diese Erkenntnis nicht neu ist, verdeutlicht Vogels Beitrag einmal mehr, welche Chancen mit einer grundlegenden Aufwertung von herkunftssprachlichen Kompetenzen bis hin zur Anerkennung als zweite Fremdsprache für die Abiturzulassung einhergehen. So schreibt Vogel in ihrem Initialbeitrag: „Mit der Abschaffung der Diskriminierung durch Fremdsprachenanforderungen bei Schulabschlüssen würde eine Hürde für Schulabschlüsse wegfallen, so dass vor allem zugewanderte Schüler*innen in der Folge seltener ohne Abschluss die Schule verlassen und häufiger auch das Abitur erreichen können.”
Nicht nur der wachsende Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte, sondern das Bildungssystem insgesamt könne von einem reformierten Sprachenunterricht profitieren. Vogel sieht daher im erweiterten Rechtsanspruch einen wesentlichen Veränderungsmotor, um der migrationsbedingten sprachlichen Vielfalt im Bildungsbereich Rechnung zu tragen. Sie benennt Mindestkriterien sowie Gelingensbedingungen und bezeichnet eine solche Reform – aufbauend auf Modellprojekten mit digital gestütztem Mehrsprachenunterricht – als „realistische[n] Weg, um innerhalb weniger Jahre eine bislang in der Bildungspolitik und -administration weithin unbeachtete Form der Benachteiligung im Bildungssystem abzuschaffen.“
Dass mit Blick auf die Umsetzung in der Praxis gleichwohl offene Fragen und verschiedene Implikationen diskutiert werden müssen, veranschaulichen die Kommentare aus dem Kreis der Mitglieder des Rats für Migration.
Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive etwa gibt Yazgül Şimşek zu bedenken, dass auch Schüler*innen mit Erstsprache Deutsch Wahloptionen im Hinblick auf Sprachprüfungen haben sollten. Zudem müsse vermieden werden, dass sich eine Aufwertung der Herkunftssprachen zu Lasten der Nachfrage zu bestehenden Fremdsprachenangeboten auswirke. Das höhere Prestige und die Funktion der Englischen Sprache als Lingua Franca dürfe ebenso wenig unterschätzt werden wie der Aufbau der nötigen finanziellen und personellen Ressourcen.
Die Erziehungswissenschaftlerin Kathrin Huxel betont die Notwendigkeit der Aufwertung sogenannter „statusniedriger” Sprachen aus rassismuskritischer Perspektive. Sie argumentiert für einen „vernetzten Mehrsprachenunterricht”, der sprachliches Lernen ganzheitlich betrachtet und sowohl die Entwicklung persönlicher Sprachenprofile als auch den kompetenten Umgang aller mit sprachlicher Vielfalt fördert. Methodische und didaktische Ansätze des sogenannten „translanguaging”, der Vermischung von Sprachen und sprachlichen Codes, seien diesbezüglich wegweisend. Aufmerksam macht sie auch auf „hohe Ansprüche an Schulentwicklung und Lehrerprofessionalität“ mit Blick auf den von Vogel skizzierten digital gestützten Mehrsprachenunterricht.
Der Kommentar von Prof. Galina Putjata, ebenfalls Expertin im Bereich sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit, beleuchtet die Potenziale des Reformvorschlags für weitere Handlungsfelder. Transnationalisierungsbestrebungen der Europäischen Union, Mobilität und Inklusion sowie die Integration von Personen mit ausländischen Abschlüssen auf dem Arbeits- und Bildungsmarkt sind Aspekte, mit denen sie sich kritisch auseinandersetzt. In diesem Kontext plädiert sie - auch angesichts des Lehrkräftemangels - für eine verstärkte Anerkennung ausländischer Abschlüsse und mehrsprachiger Kompetenzen von Lehrkräften mit Migrationsgeschichte.
Mit Beispielen aus Schweden und Israel sowie einigen positiven Ansätzen in Deutschland unterstreicht sie die Bedeutung, bestehende Ressourcen in der Migrationsgesellschaft wertzuschätzen. Diesbezüglich gelte es auch Lehrerbildung, Curricula und Lehrbücher weiterzuentwickeln. Mehrsprachige Lehrkräfte, insbesondere Herkunftssprachenlehrkräfte, würden an deutschen Schulen dringend gebraucht; sie sollten passende Weiterbildungsangebote erhalten, aktiv in die Reform einbezogen sowie gleichgestellt werden, so Putjata.
Für eine grundsätzliche Neuperspektivierung der sprachlichen Bildung plädieren schließlich Till Woerfel, Almut Küppers und Prof. Christoph Schroeder in ihrem Kommentar „(Mehr)Sprachenprofile digital gestützt nutzen und ausbauen“. Anpassungen an die mehrsprachigen Realitäten einer pluralen Gesellschaft seien mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt dringend notwendig und digitales Lernen böte die Chance, die Mehrsprachigkeitsprofile aller Schülerinnen und Schüler zu entwickeln.
Die Kommentare können ebenso wie der Initialbeitrag von Dita Vogel können online abgerufen werden.
Wasser auf die Mühlen der GEW
Für die GEW sind der Reformvorschlag und die daran anschließenden Überlegungen Wasser auf ihre Mühlen. Die GEWDenn die Bildungsgewerkschaft setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, Mehrsprachigkeit zu fördern und die strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für den herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) zu verbessern. Die Debatte des Rats für Migration ist daher ein willkommener Anlass, die Forderungen der GEW mit der Fachöffentlichkeit zu diskutieren:
- HSU sollte als gleichwertiges, versetzungsrelevantes Unterrichtsfach und als (zweite) Fremdsprache anerkannt werden.
- Das Studienangebot im Lehramt muss verbessert und ausgebaut werden.
- Unterrichts- und Arbeitsbedingungen von Lehrkräften für HSU müssen verbessert werden.
- Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte müssen gleichgestellt werden.
Der Bundesausschuss Migration, Diversity, Antidiskriminierung (BAMA) plant für Mitte September eine Online-Veranstaltung mit Dita Vogel. Interessierte können sich per E-Mail an das BAMA-Leitungsteam wenden, um weitere Informationen zu erhalten.