Internationale Konferenz der Bildungsinternationale (BI)
„Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“
75 Jahre nach Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau haben Pädagoginnen und Pädagogen aus aller Welt in Krakau diskutiert, wie die Erinnerung an den Holocaust wachgehalten und Antisemitismus entgegengewirkt werden könne.
Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sowie Lehrkräfte aus aller Welt haben anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau bei einer Konferenz im polnischen Krakau eine Erklärung zum Gedenken an den Holocaust verabschiedet. In der von der GEW gemeinsam mit der israelischen Partnergewerkschaft Histradut HaMorim und der polnischen Bildungsgewerkschaft ZNP vorbereiteten Erklärung stellten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen Bezug zum weltweiten Aufflammen des Antisemitismus im vergangenen Jahrzehnt und zu einem Rückgang des Wissens über den Holocaust in der jungen Generation her.
Einsatz für Demokratie und Menschenrechte
Die Unterstützerinnen und Unterstützer verpflichteten sich, jeglicher Form der Relativierung oder Leugnung des Holocaust entgegenzutreten und junge Menschen zu ermutigen, sich für Demokratie, Menschenrechte und ein friedliches Miteinander einzusetzen. Sie betonten zudem die Bedeutung digitaler Medien wie Videoarchive für eine Holocaust-Erziehung mit immer weniger Zeitzeugen. Weiter sprachen sie sich dafür aus, über eine reine Werteerziehung hinaus forschendes Lernen in den Unterricht einzubeziehen.
Die BI, die weltweite Dachorganisation der Bildungsgewerkschaften, hatte nach 2015 zum zweiten Mal zu dem internationalen Treffen eingeladen. An der von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderten Konferenz nahmen Vertreterinnen und Vertreter aus 17 Ländern teil – überwiegend aus Europa, aber auch aus Afrika sowie Nord- und Südamerika. Die größten Delegationen stellten die GEW und die Histradut HaMorim, der auch Nachfahren von Holocaust-Opfern und Überlebenden angehören.
Dem fachlichen Austausch ging ein Besuch der Gedenkstätte und des Museums Auschwitz-Birkenau voraus. Am 27. Januar nahmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der offiziellen Gedenkfeier mit mehr als 200 Auschwitz-Überlebenden und Staatsoberhäuptern aus aller Welt teil – ein bewegendes Ereignis. Der polnische Journalist Marian Turski (93), der 1944 nach Auschwitz deportiert worden war, machte deutlich, wie dem Holocaust viele Schritte der Entrechtung von Jüdinnen und Juden vorausgegangen waren: „Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“, betonte er. Direkt angesprochen fühlten sich die Bildungsgewerkschafterinnen und -gewerkschafter von der 95-jährigen Auschwitz-Überlebenden Batsheva Dagan, die Lehrerinnen und Lehrer aufrief, den Holocaust im Unterricht zu behandeln.
Pädagogischer Erfahrungsaustausch
Zu einem konstruktiven Austausch über Unterrichtspraktiken und pädagogische Erfahrungen im Umgang mit dem Holocaust kam es im „Teachers‘ Panel“. Die Berliner Grundschullehrerin Silvia Stieneker zeigte, wie sie mit Graphic Novels und einer spielerischen Verarbeitung der darin erzählten Geschichten Kindern in den Klassenstufen 5 und 6 eine altersgerechte Auseinandersetzung mit dem Holocaust ermöglicht. Dies sei in Berlin, wo Kinder täglich mit Zeugnissen der NS-Geschichte konfrontiert würden und selbst früh Fragen stellten, unumgänglich. Ihre israelische Kollegin Ariela Radae sagte, dass Holocaust-Erziehung in Israel schon an Kitas selbstverständlich sei. Umso wichtiger seien adäquate pädagogische Methoden, die neben einer kognitiven auch eine emotionale Dimension aufweisen müssten.
Wie mit modernen Methoden die Brücke von der Geschichte des Holocaust zu Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung in der Gegenwart geschlagen werden kann, präsentierten Saba-Nur Cheema und Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Das von Jugendgruppen und Schulklassen besuchte Bildungszentrum entwickelte seine Ausstellung zu einem interaktiven Lernlabor weiter.
„Mit Gedenkfeiern allein ist es nicht getan.“ (Matjaz Gruden)
Der Vertreter des Europarats, Matjaz Gruden, stellte das Programm der 47 Mitgliedsstaaten repräsentierenden Organisationen für die politische Bildung und die Förderung bürgerschaftlichen Engagements vor. Der Europarat setzt sich dafür ein, dass „active citizenship“, also politische Bildung und die Förderung bürgerschaftlichen Engagements, in den Lehrplänen verankert wird. „Mit Gedenkfeiern allein ist es nicht getan“, sagte Gruden. Es komme vielmehr darauf an, in der jungen Generation demokratische und menschenrechtliche Grundwerte nicht nur zu verankern, sondern auch einzuüben.
Eindrucksvoll war der Auftritt der bekannten polnischen Filmregisseurin und Drehbuchautorin Agnieszka Holland, die mit „Hitlerjunge Salomon“ spätestens 1990 auch einem breiten Publikum in Deutschland bekannt wurde. In einem Gespräch mit der Literaturkritikerin und feministischen Aktivistin Kazimiera Szczuka reflektierte sie, wie die Filmkunst zum Gedenken und Verständnis des Holocaust beitragen könne. Es komme darauf an, die emotionale Phantasie der heutigen Zuschauerinnen und Zuschauer zu wecken, damit diese Empathie für die im Film gezeigten Figuren entwickeln könnten, sagte Holland. Zudem beschrieb die Filmemacherin, die kurz vor der Verhängung des Kriegsrechts 1981 nach Paris emigriert war, die Schwierigkeiten des Holocaust-Gedenkens in der ehemaligen polnischen Volksrepublik. Die kommunistische Regierung habe das Gedenken stets an polnischen Opfern ausgerichtet, von Jüdinnen und Juden sei zumeist keine Rede gewesen.
Einbettung in pädagogische Konzepte
Der Psychologieprofessor an der Universität Warschau, Michael Bilewicz, setzte sich mit der Wirkung von Gedenkstättenbesuchen auf Schülerinnen und Schüler auseinander. Empirische Studien zeigten, dass diese nicht automatisch Antisemitismus entgegenwirkten und Toleranz Vorschub leisteten. Entscheidend sei die Einbettung der Besuche in pädagogische Konzepte. Dabei gehe es um die Herstellung von Empathie, die etwa durch eine Erforschung der Erfahrungen der Opfer hergestellt werden könne. In besonderer Weise sei dies möglich, wenn ein regionaler Bezug zu den Wohnorten der Schülerinnen und Schüler hergestellt werde. Wichtig sei, die Vielfalt von Verhaltensweisen von Zeitzeugen aufzuzeigen, die neben der Täter- und Mitläuferperspektive unterschiedliche Formen des aktiven und passiven Widerstands einschlössen.