Mobilität im Bildungssystem
Zwischen Braindrain und Braingain
Bei der Auslandsmobilität der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler liegt Deutschland nur im europäischen Mittelfeld.
Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland eine Zeit lang im Ausland tätig sind, gehört mittlerweile zum guten Ton. Auslandsaufenthalte gelten als positiv für den Karriere-verlauf. Förderprogramme, etwa des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) oder der Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH), unterstützen diese Internationalisierung von Forschung und Lehre und sehen darin einen entscheidenden Baustein für die erfolgreiche Entwicklung Deutschlands als Wissenschafts-, Hochschul- und Wirtschaftsstandort.
Allerdings liegt Deutschland im Vergleich mit anderen europäischen Ländern bei der Auslandsmobilität bestenfalls im Mittelfeld. Nur 10 Prozent der Promovierenden verbringen drei Monate oder länger im Ausland, wie der jüngste Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs, kurz BuWiN, von 2021 zeigt. Der Durchschnitt in der Europäischen Union (EU) ist etwa doppelt so hoch. Besser sieht es bei den Postdocs aus, hier liegt der Wert bei immerhin einem Drittel und damit im EU-Vergleich im guten mittleren Bereich. Besonders groß ist die Zahl der Auslandsaufenthalte bei Promovierten in Kunst sowie Kunst- und Geisteswissenschaften, ergibt die aktuelle Analyse der Publikation „Wissenschaft weltoffen“ des DAAD. Im Schnitt die längste Zeit, nämlich gut zwölf Monate, verbringen demnach Postdocs der Humanmedizin und der Gesundheitswissenschaften im Ausland. Die große Mehrzahl der Aufenthalte dient Forschungszwecken.
Probleme sind seit langem bekannt
Die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zieht es in die USA, aber auch nach Westeuropa – hier vor allem nach Österreich und in die Nicht-EU-Länder Schweiz und Großbritannien (mit spürbarem Rückgang nach dem Brexit). Das kann für viele zum Problem werden. Denn während innerhalb der EU mittlerweile weitgehend geregelt ist, dass und wie Auslandsaufenthalte bei der tariflichen Eingruppierung sowie Einzahlungen in die Sozialversicherung bei der Rückkehr angerechnet werden, ist dies bei Aufenthalten im Nicht-EU-Ausland nicht immer gesichert.
„Mobilität wird so nicht gefördert, sondern sogar erschwert.“ (Andreas Keller)
Wer zurückkehrt, für den besteht somit die Gefahr, bei einem neuen Vertrag oder einer Vertragsverlängerung trotz wertvoller Auslandserfahrungen zurückzufallen oder auf dem gleichen Stand zu bleiben. „Mobilität wird so nicht gefördert, sondern sogar erschwert“, kritisiert GEW-Vorstandsmitglied Andreas Keller. „Das Problem ist seit langem bekannt, doch es hat sich wenig getan.“
Keller sieht noch ein weiteres Problem. Da es in Deutschland kaum Dauerstellen gibt, sind viele gezwungen, mit Kurzzeitverträgen von Hochschule zu Hochschule zu wechseln – und auch einen Auslandsaufenthalt einzuplanen, um bessere Karrierechancen zu haben. „Es sollte bei der Mobilität Wahlfreiheit geben, ohne dass Nachteile entstehen“, sagt Keller.
Bundesregierung: kein Handlungsbedarf
Wie viele wissenschaftlich Hochqualifizierte dauerhaft ins Ausland gehen, weil sie hierzulande keine Perspektive für sich sehen, dazu gibt es keine aktuellen Zahlen. Ein Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) kam 2014 zu dem Ergebnis: „Insbesondere für die Besten scheint das deutsche Forschungssystem derzeit nicht attraktiv genug zu sein.“ Zwischen 1996 und 2011 sind demnach 4.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr abgewandert als ins Land kamen.
Die Bundesregierung hingegen erklärte kürzlich, sie sehe keinen Braindrain-Effekt in Deutschland und betrachte zeitweilige Auslandsaufenthalte als Teil einer wissenschaftsimmanenten „Brain Circulation“, sodass kein Handlungsbedarf bestehe. Andererseits finanziert sie aufwändige Rückholprogramme unter der Überschrift „Brain Gain“, deren Wirksamkeit das EFI-Gutachten zumindest in der Vergangenheit in Frage gestellt sah.
„Wer ins Ausland geht und zurückkommt, darf keine Nachteile haben, was das Gehalt und die Sozialversicherung angeht, es darf aber auch keinen Mobilitätszwang geben.“
Die GEW dagegen fordert, dass die Karrierewege im deutschen Hochschulsystem reformiert werden. „Mobilität fördern und nicht bestrafen“, heißt es in einem Programm der Gewerkschaft. „Es dürfen keine Steine in den Weg gelegt werden“, so formuliert es Keller. „Wer ins Ausland geht und zurückkommt, darf keine Nachteile haben, was das Gehalt und die Sozialversicherung angeht, es darf aber auch keinen Mobilitätszwang geben.“