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Schulsport

Zu wenig in Bewegung

Politikerinnen und Politiker betonen zwar immer wieder die Bedeutung des Sportunterrichts. Doch Sportstunden finden in maroden Hallen mit uralten Geräten statt oder werden gleich ganz gestrichen. Wo liegen die Ursachen?

Foto: Pixabay / CC0

Die US-Comic-Serie „Die Simpsons“ karikiert seit 1989 den Alltag in den USA. Figuren wie der freundliche Lebensmittelhändler Apu oder der bräsige Polizist Chief Wiggum unterhalten seither Comic-Fans auf allen Kontinenten. Nicht gut hat es „Simpsons“-Erfinder Matt Groening derweil mit der Zunft der Sportlehrer gemeint: Mr. Krupt, der nur sporadisch auftaucht, ist ein tumber, militaristischer Hinterwäldler, bei dessen gebrüllten Anweisungen und gellenden Pfiffen sich die Schüler gequält die Ohren zuhalten.

Monika Fechner (Name geändert) ist keine Zeichentrickfigur, sondern eine reale Lehrerin an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. An diesem regnerischen Dienstagmorgen ist sie erkältet, doch das ist nicht der Grund, warum von 8 bis 9 Uhr 30 nicht eine einzige gebrüllte Anweisung von ihr zu hören ist. Selbst die wenigen Pfiffe, mit denen sie die in Kleingruppen trainierenden Sechstklässler hin und wieder zusammenruft, sind nicht gellend, sondern wirken sanft. „Dieser Kasernenhofton war mir schon zuwider, als ich selbst noch Schülerin war“, sagt die Mittvierzigerin. „Man kann mit anderen Mitteln für Ruhe sorgen.“ Wie zum Beweis kündigt sie nun eine Version von „Ball über die Schnur“ an, bei der die Kinder sich nur mit Gesten verständigen dürfen. Wer spricht oder gar schreit, muss zwei Minuten pausieren. Bis auf drei Schüler muss niemand auf die Bank. 

„Sport leistet einen großen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Für viele Kinder und Jugendliche ist er der einzige Rahmen, in dem sie noch lernen können, was man mit dem eigenen Körper alles anstellen kann.“ (Norbert Baumann)

Dann bittet Fechner die Klasse wieder in den Kreis. In der Vorwoche haben sie darüber gesprochen, wie Koordination und Kondition trainiert werden können, die Kinder haben selbstständig Trainingsparcours entworfen. Es hat sich definitiv einiges geändert in den Jahren, seit Fechner selbst zur Schule ging. Aber nicht alles. „Ich stelle auch bei den heutigen Schülern eine große Freude an der Bewegung fest“, sagt die Lehrerin. Doch da gibt es die allgegenwärtige Konkurrenz durch PC und Internet. Die wird auch in der Großen Pause sichtbar, etwa wenn ein Zwölfjähriger mit nach vorne gereckten Armen über den Schulhof läuft – wie der Ego-Shooter, mit dem er nachmittags und abends spielt. „Headshot“ ruft der Junge. „Bamm – dein Kopf fliegt weg.“

Fechners Gymnasium ist ein soziologisches Kuriosum. Es liegt in einem wohlhabenden Teil der Stadt, doch die Kinder der dort ansässigen Akademiker gehen anderswo zur Schule. „Unsere Schule gilt als schwierig, wir können uns die Schüler nicht aussuchen“, sagt die Pädagogin. „Wir nehmen jedes Kind auf.“ Dementsprechend hoch sind die Anforderungen an die Lehrkräfte, gerade auch im Sportunterricht. „Aber viele Kolleginnen und Kollegen unterrichten gerne und ganz bewusst hier“, sagt Fechner. „Diese Schule ist bunt und nicht so monokulturell wie andere Gymnasien in der Stadt.“ Was sie dennoch ärgert: Einige Sportgeräte sind älter als sie selbst, das Lehrerzimmer ist eng und ein wenig heruntergekommen. Und dass die Kaffeemaschine mal wieder kaputt ist, hebt die Laune auch nicht eben.

Aber immer wieder gebe es bei allen Rückschlägen auch Erfolgserlebnisse, sagt sie: große, wenn ein Kind, das es zu Hause nicht leicht hat, ein passables Abitur macht. Und kleine, wenn im Sportunterricht „Berührungsängste“ abgebaut werden können, auch die ganz konkreten. Kürzlich haben sie sich in der 7. Klasse bei einer Besprechung an den Schultern gefasst und so einen Kreis gebildet. Für einige Kinder hat ein solcher Kontakt Seltenheitswert. „Sport leistet einen großen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung“, sagt Norbert Baumann von der GEW-Sportkommission. „Für viele Kinder und Jugendliche ist er der einzige Rahmen, in dem sie noch lernen können, was man mit dem eigenen Körper alles anstellen kann.“ 

In Deutschland gelten etwa 15 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen als übergewichtig, je nach Studie sind 6 bis 7 Prozent adipös. In der Altersgruppe der Vier- bis 17-Jährigen können 43 Prozent der Untersuchten bei Rumpfbeugen ihre Zehenspitzen nicht erreichen. Mehr als ein Drittel scheitert beim Versuch, wenige Schritte rückwärts auf dem Querbalken zu balancieren. Fakten, die nicht ohne Grund so deprimierend sind, wie eine weitere Zahl verrät: Nur ein Drittel der Jugendlichen bewegt sich 60 Minuten oder mehr am Tag – das von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Maß. Schulsport allein reicht nicht aus, um den chronischen Bewegungsmangel junger Menschen zu beheben. Aber ohne ihn würden sich viele gar nicht mehr bewegen.

„Wenn ich eine Doppelstunde Sport habe, merke ich danach, wie anstrengend es war, alle über 90 Minuten bei der Stange zu halten.“ (Karsten Schmieder)

Deshalb hat sich 2013 auf der UNESCO-Weltkonferenz der Sportminister auch Deutschland in der „Berliner Erklärung“ dazu verpflichtet, „sicherzustellen, dass guter und inklusiver Sportunterricht als vorzugsweise tägliches Pflichtfach in die Grund- und Sekundarschulbildung aufgenommen wird (und) dass Sport und körperliche Betätigung an Schulen und allen sonstigen Bildungseinrichtungen fest in den Tagesablauf von Kindern und Jugendlichen integriert“ wird. Ebenso hymnisch äußert sich der Deutsche Städtetag zur Bedeutung des Sportunterrichts: „Bewegung, Spiel und Sport sind für eine gesunde, physische und psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen von zentraler Bedeutung. Der Schulsport leistet damit einen anerkannten Beitrag zu Bildung und Erziehung sowie zur Bewegungs- und Gesundheitsförderung junger Menschen.“

Doch so „unverzichtbar“ – eine Lieblingsvokabel in Sonntagsreden – erscheint der Sportunterricht im Schulalltag eben gerade nicht. De facto schaffen es nicht einmal alle Bundesländer, verbindlich drei Wochenstunden Sport im Lehrplan zu verankern. Das Saarland und Niedersachsen belassen es bei zwei Wochenstunden. Ende Juni beschloss auch die Große Koalition in Sachsen, das Stundentableau um je eine Wochenstunde in Deutsch und Sport zu kürzen. Kultusminister Christian Piwarz (CDU) begründete die Entscheidung ebenso populistisch wie hilflos: „Hohe Priorität hat für uns, die Stundenlast der Schülerinnen und Schüler zu verringern und zugleich Freiräume für bestimmte Lerninhalte und mehr individuelle Förderung zu eröffnen.“ Tatsächlich ging es wohl eher darum, den Lehrkräftenotstand zu kaschieren.

In vielen der Bundesländer, die drei Sportstunden anbieten, fallen nicht wenige davon regelmäßig aus. Unter anderem deshalb, weil es häufig an ausgebildeten Sportlehrkräften fehlt. Oft unterrichten Lehrerinnen und Lehrer Sport fachfremd. „Es ist lustig, welches Image das Fach Sport hat“, sagt Karsten Schmieder (Name geändert), der in Niedersachsen unterrichtet. „Auf der einen Seite meinen viele, wir machten uns einen schlauen Lenz, während andere Fachkollegen die Klausuren korrigieren.“ Schmieder muss lachen. „Aber wenn es darum geht, wer den Klassenlehrer ins Landschulheim begleitet, stehen wir aus dem Sport hoch im Kurs.“ Ob das etwas damit zu tun hat, dass Sportlehrerinnen und -lehrer eine große Sozialkompetenz brauchen? Kürzlich habe er jedenfalls eine Kollegin, die sich spöttisch über das Fach Sport geäußert habe, gebeten, doch mal bei einer seiner Stunden vorbeizuschauen. „Sie hat dankend abgelehnt. Das sei viel zu laut und hektisch.“

Tatsächlich ist die Arbeits- und Stressbelastung für Sportlehrkräfte zuletzt immer weiter gestiegen, auch durch Lärm. Messungen ergaben Durchschnittswerte von 80 und Spitzenwerte bis zu 100 Dezibel in den Sporthallen. „Wenn ich eine Doppelstunde Sport habe, merke ich danach, wie anstrengend es war, alle über 90 Minuten bei der Stange zu halten“, sagt Schmieder. „Zumal ich immer die Verletzungsgefahr im Hinterkopf haben muss – gerade, wenn unsere kleine Turnhalle mal wieder von zwei Klassen gleichzeitig genutzt wird und die Bälle hin- und herfliegen.“ 

„Es führt kein Weg daran vorbei, dass der Bund wesentlich mehr Geld ausgibt. Im Bereich des Sports ist der Bedarf mit am größten.“ (Baumann)

Schmieder und Fechner sind sich darin einig, dass die Wissenschaft deutlich weiter ist als der Schulalltag. „Bewegung müsste eine Querschnittsaufgabe sein, die man fächerübergreifend verfolgt“, sagt die Lehrerin aus NRW und verweist auf das Konzept der „Bewegten Schule“, das die „Sitzschule“ ablösen soll. Doch auch das beste Konzept kann nicht auffangen, was durch den Investitionsstau an Schulen im Argen liegt. Klar ist jedenfalls, dass die vom Bund bewilligten 3,5 Milliarden Euro für Schulbausanierung bei weitem nicht reichen werden, um flächendeckend marode Gebäude zu sanieren – ein Problem, das nicht zuletzt auch das Fach Sport betrifft. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass es oft nicht am fehlenden Geld liegt, wenn notwendige Investitionen, etwa in Sporthallen, unterbleiben. Immer öfter kam es in den vergangenen Jahren vor, dass bewilligte Gelder nicht abgerufen wurden. Der Grund: Manche Kommunen haben in ihrer Finanznot so viel Personal abgebaut, dass sie heute ihren ureigensten Aufgaben nicht mehr nachkommen können. 

Dass viele Hallen und Anlagen marode sind, bestreitet kein Politiker. Doch Schulen und Sportstätten zu bauen und dann in gutem Zustand zu unterhalten, ist Aufgabe der Kommunen. Viele von ihnen sind jedoch nach wie vor klamm. In seiner Not spielt etwa Berlin bereits die Idee durch, kostengünstige genormte Einheitssporthallen aufzubauen, damit überhaupt regelmäßig Sportunterricht stattfinden kann. GEW-Sportexperte Baumann zitiert das Bonmot, nach dem „der Raum der dritte Pädagoge“ sei – im Falle solcher Behelfskonstruktionen dann wohl ein schlechter. „Es führt kein Weg daran vorbei, dass der Bund wesentlich mehr Geld ausgibt. Im Bereich des Sports ist der Bedarf mit am größten.“ Immer wieder ärgert sich Baumann, wie bereitwillig Hunderte Millionen ausgegeben werden, wenn Kommunen auf die Vergabe einer Olympiade oder einer anderen imageträchtigen Großveranstaltung hoffen. „Wenn dann wenigstens darauf geachtet würde, dass die Hallen danach auch für den Schul- und Breitensport gut nutzbar sind.“ Laut einer repräsentativen Studie erachten 55 Prozent der GEW-Mitglieder den Bau von Sportstätten für Schulen als wichtig oder sehr wichtig.

Ein Knackpunkt bei der Finanzierung bleibt, dass die Kultus- und Bildungsministerien der Länder auf ihre Kulturhoheit in Sachen Schulpolitik pochen – auch das ein Grund, warum die Kultusministerkonferenz, die die Bildungspolitik der Länder koordinieren soll, mit ihren Vorschlägen so selten durchdringt. In vielen Bundesländern herrscht die Sorge vor, durch eine Verlagerung einzelner Entscheidungen auf die Bundesebene könnten die eigenen Handlungsspielräume so weit aufgeweicht werden, dass irgendwann die Frage aufkommt, ob Bildung denn überhaupt in die Zuständigkeit der Länder fallen müsse. Aus diesem Blickwinkel wird auch das Kooperationsverbot diskutiert, das dem Bund untersagt, in bildungspolitische Angelegenheiten der Länder einzugreifen. Maßnahmen im Zusammenhang mit Bildung dürfen daher nicht von Berlin finanziert werden.

Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 forderte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz die Abschaffung des Kooperationsverbotes und war damit auf einer Linie mit Linkspartei, FDP und Grünen. Doch auf Landesebene will der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, das Kooperationsverbot unbedingt beibehalten. Zwar sieht auch er den Bund in der Pflicht, Bildung stärker zu finanzieren. Der Teufel steckt aber im Detail. So hat die derzeit im Bund regierende Große Koalition die Freigabe der bereits von der Vorgängerregierung bewilligten 3,5 Milliarden Euro für die Schulbausanierung an eine weitere Lockerung des Kooperationsverbotes geknüpft. Solange die für eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes nötige Zweidrittelmehrheit wegen des Widerstandes von Politikern wie Kretschmann nicht steht, bleiben die Gelder eingefroren, und es ändert sich erst einmal nichts. Das wäre ohne Zweifel die denkbar schlechteste Option. Doch dass der vom Bundesbildungsministerium propagierte Plan, das Geld Anfang 2019 auszuzahlen, umgesetzt wird, glaubt selbst im politischen Berlin kaum noch jemand.

Die GEW-Sportkommission versteht sich als Netzwerk aller an sport- und bildungspolitischen Fragen interessierten und den Sport gestaltenden Kolleginnen und Kollegen. Sie berät die Bildungsgewerkschaft zu den Themen

  • Angebote für Bewegung, Sport und Spiel im Elementarbereich,
  • sämtliche Aspekte des Schulsports, etwa Sportunterricht, außerunterrichtlicher Sport und schulsportliche Wettbewerbe,
  • Aus- und Fortbildung für Sportlehrkräfte,
  • Sportwissenschaft und Hochschulsport.

Diese Fragen sind untrennbar mit dem sportlichen Geschehen außerhalb des Bildungssektors verbunden. Daher nimmt die Sportkommission auch Stellung zu sportpolitischen Fragen wie Doping oder Missständen und Fehlentwicklungen im Spitzensport, bei Sportorganisationen und sportlichen Großereignissen. Interessierte GEW-Kolleginnen und -Kollegen sind jederzeit willkommen. Die Jahrestagung der GEW-Sportkommission findet am 29. und 30. März 2019 in Göttingen statt. Einer der Schwerpunkte ist die Diskussion über eine gute Ganztagsschule. Jessica Süßenbach, Professorin für Sportpädagogik und Sportwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg, wird die Ergebnisse ihrer jüngsten Studie „Wir bewegen den Ganztag“ vorstellen und diskutieren. Daraus will die Sportkommission Anforderungen und Kriterien für ein qualitativ und quantitativ hochwertiges Bewegungsangebot an Ganztagsschulen entwickeln. Kolleginnen und Kollegen aus den Landesverbänden sind herzlich eingeladen. Die Kosten für Anreise, Übernachtung und Verpflegung werden übernommen. Kontakt: Ole Stratmann, E-Mail: olestratmann@hotmail.com

Norbert Baumann, GEW-Sportkommission