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Bildungswende JETZT!

„Wir können nicht mehr“

Rund 25.000 Menschen beteiligten sich am 23. September am bundesweiten Bildungsprotesttag und demonstrierten für eine Wende in der Bildungspolitik. Allein in Berlin gingen 7.000 Menschen auf die Straße.

Zum bundesweiten Bildungsprotesttag aufgerufen hatte das Bündnis „Bildungswende JETZT!“ – ein Zusammenschluss aus über 180 Bildungsorganisationen, Gewerkschaften, darunter die GEW, sowie Eltern- und Schülervertretungen. Schon im Juni hatte das Bündnis in einem Appell an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Bundesregierung, an die Regierungschefinnen und -chefs der Länder und die Kultusministerkonferenz auf die tiefe Bildungskrise hingewiesen und vier Forderungen für ein gerechtes, inklusives und zukunftsfähiges Bildungssystem aufgestellt. Denn das deutsche Bildungssystem ist veraltet, unterfinanziert und sozial ungerecht. Viele Kitas und Schulen können ihren Bildungsauftrag nicht mehr erfüllen, es fehlen in den nächsten Jahren 300.000 Erzieherinnen und Erzieher sowie bis zu 160.000 Lehrkräfte. Jedes Jahr verlassen rund 50.000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss.

Sondervermögen Bildung von mindestens 100 Milliarden Euro

Das Bündnis schlägt ein Sondervermögen Bildung von mindestens 100 Milliarden Euro als Anschubfinanzierung vor. „Die zusätzlichen Gelder sollen beispielsweise in den Ausbau des inklusiven Ganztags an Grundschulen fließen“, sagt GEW-Vorsitzende Maike Finnern. „Das ist ein zentrales gesellschafts- und bildungspolitisches Projekt der Ampelregierung, das gelingen muss.“ Die GEW-Vorsitzende betont außerdem, dass es dringend notwendig sei, die Zahl und die Qualität der Kitas weiter auszubauen. „Beide Maßnahmen sorgen für mehr Chancengleichheit, insbesondere für Kinder aus armen und bildungsfernen Familien“, so Finnern.

Neben dem Sondervermögen verlangt „Bildungswende JETZT!“ eine dauerhafte Finanzierung von Bildung und Forschung mit 10 Prozent des Bruttoinlandproduktes – genau wie es beim Dresdener Bildungsgipfel 2008 vereinbart wurde. Außerdem fordert es eine bessere Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen, ein anderes Bildungssystem mit mehr Personal, multiprofessionellen Teams und überarbeiteten Lehrinhalten sowie einen Bildungsgipfel auf Augenhöhe.

Bloße Verwahrung statt frühkindliche Bildung

Um die Forderungen zu unterstreichen und in die Öffentlichkeit zu tragen, rief das Bündnis „Bildungswende JETZT!“ zum bundesweiten Bildungsprotesttag am 23. September auf, der in 29 Städten stattfand. In Berlin protestierten nach Angaben der Veranstalter 7.000 Menschen. Dass sich der Protest nicht nur auf die dramatische Lage an Schulen sondern auch auf die Missstände in Kitas bezog, war auf den ersten Blick zu erkennen: Im Protestzug liefen auffallend viele Eltern mit kleinen Kindern.

„Ich bin 34 Jahre alt und habe schon viele Kolleginnen in den Burn-out gehen sehen.“ (Aileen Hirthe)

Unter den Demonstrierenden waren viele Fachkräfte aus Kitas. Wer sich unter ihnen umhörte, erlebte ihre Verzweiflung ganz unmittelbar. „Wir können nicht mehr“ stand auf dem selbst geschriebenen Schild der Kita-Erzieherin Aileen Hirthe. „Ich bin 34 Jahre alt und habe schon viele Kolleginnen in den Burn-out gehen sehen“, sagt sie und berichtet, dass vor allem Kinder mit Entwicklungsverzögerungen nicht richtig betreut werden könnten, da es zu wenige Fachkräfte gebe. „Ich muss immerzu weinende Kolleginnen trösten.“ Zu wenig Personal, bloße Verwahrung statt frühkindlicher Bildung – das ist Alltag in vielen Kitas. Erzieherin Antonia Wilson ist auch zum Protesttag gekommen, weil sie endlich mehr Anerkennung möchte. „Wir sind nicht die Kaffee trinkenden Tanten von nebenan“, sagt sie. „Wir führen einen Bildungsauftrag aus.“

Unter dem Personalmangel leidet auch die Inklusion

Wie sich der Lehrkräftemangel auf die Grundschulbildung auswirkt, erlebt Vater Tom Rochau regelmäßig. Mit seiner Tochter, die in die 2. Klasse geht, demonstrierte er für kleinere Klassen und bessere Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte. „In ihrer Klasse sind 26 Kinder“, sagt er. „Die Lehrerin hat so wenig Zeit, dass die Kinder oft Aufgaben machen, die sich dann aber niemand ansieht.“ Es müssten viel mehr junge Menschen für den Beruf gewonnen werden, meint er.

Die Veranstalter kritisierten, dass durch den Personalmangel an Schulen vor allem die Inklusion leide. Deshalb lief Manuela Frenz von der Elterninitiative „Bündnis für Inklusion“ im Protestzug mit. „Es wird immer schlimmer mit der Nicht- und Teilbeschulung“, sagt sie, „besonders von Kindern mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung.“ Grundschullehrerin Rebecca Herzog berichtet von „erbärmlichen Bedingungen“, unter denen sie arbeitet. „Wir haben viele Kinder mit Förderbedarf geistige Entwicklung, für die wir aber niemanden abstellen können“, sagt sie. „Also laufen diese Kinder einfach in Klassen von über 20 Kindern mit. Manche neigen dann zu Gewalt oder laufen weg, weil sie unterversorgt sind.“

Es muss viel geschehen, um aus der Bildungskrise hin zu einer Bildungswende zu kommen. Ein Anfang ist getan. Einen Tag nach dem Bildungsprotest zogen die Veranstalter jedenfalls eine positive Bilanz. „16 Bundesländer, 29 Städte, 25.000 Menschen“, heißt es auf der Webseite, „ein fetter Erfolg.“