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Wir bilden Norwegen!

Neun von zehn Lehrkräften in Norwegen sind Mitglied der Bildungsgewerkschaft Utdanningsforbundet. Zu deren Kongress am 4. – 7. November in Lillestrøm war der Berliner GEW-Vorsitzende Tom Erdmann als Gast eingeladen.

Klimawandel und Nachhaltigkeit

Ein Blick über den Tellerrand hilft oft, die eigenen Diskussionen einzuordnen und neue Argumente zu finden. So erging es mir beim Besuch des Kongresses unserer norwegischen Partnergewerkschaft Utdanningsforbundet (UEN) im November 2019 in Lillestrøm, 20 Kilometer nordöstlich von Oslo. Ich war beeindruckt, welch großen Raum die globale Klimakrise und die Rolle von Pädagog*innen hierbei einnimmt. Der wiedergewählte UEN-Vorsitzende Steffen Handal machte die Bedeutung des Themas für die Mitglieder an einigen Beispielen fest: Wer wird mit Fragen konfrontiert, was wahr ist und was fake news? Wer bringt jungen Menschen Nachhaltigkeit bei? Und wer begegnet dem Frust über die Tatenlosigkeit früherer Generationen? Die Mitglieder der Utdanningsforbundet!

Hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad

Und bei einem Organisationsgrad von über 90 Prozent kann Handal sehr wohl für sich in Anspruch nehmen, für alle Pädagog*innen im Land zu sprechen. In seinem Eingangsstatement nahm er die gesamte Organisation in die Pflicht sich an drei Leitfragen zu orientieren: Wie können Pädagog*innen in ihrer täglichen Arbeit mehr Bewusstsein für Nachhaltigkeit schaffen? Wie können Tarifforderungen mit dem Hinterfragen von wirtschaftlichem Wachstum zusammengebracht werden? Wie muss die Gewerkschaft sich nach innen verändern? Er kündigte hierzu einen umfangreichen Diskussionsprozess im Jahr 2020 an. Ein kontroverser Vorstoß künftig weniger Gehaltserhöhungen zu fordern, um den Konsum zu reduzieren und dafür stärker auf Arbeitszeitreduzierung zu setzen, erhielt unter den Delegierten keine Mehrheit.

Viele Quereinsteiger*innen

Das Lohnniveau der norwegischen Erzieher*innen und Lehrkräfte ist gegenüber vergleichbaren Berufsgruppen gering. Norwegische Schulen und Kitas haben mit einem unglaublichen Fachkräftemangel zu kämpfen. Fünfzig Prozent der Kinder und Jugendlichen haben keine*n grundständig ausgebildete Pädagog*in sondern Quer- und Seiteneinsteiger*in. Und dieser Mangel ist zudem noch – ähnlich wie in Deutschland – ungleichmäßig verteilt: Die dünn besiedelten Regionen nördlich von Trondheim finden kaum ausgebildete Fachkräfte, im Raum Oslo ist der Mangel hingegen noch beherrschbar. Da ist es ein gewerkschaftlicher Erfolg, wenn die UEN der rechtskonservativen Regierung ein Fachkräftegebot von wenigstens vierzig Prozent abringen konnte. Doch im Gegensatz zur GEW können in Norwegen nur diejenigen in die UEN aufgenommen werden, die auch ausgebildete Pädagog*innen sind oder zumindest die entsprechenden Aufbaukurse mit Zertifikaten besucht haben. Ansonsten sind ihre bisherigen Gewerkschaften und Berufsverbände für sie zuständig. Dies mag für uns skurril oder gar unsolidarisch anmuten, schließlich kann keine Gewerkschaft Interesse daran haben, dass Angestellte unorganisiert sind. Doch da gut 90 Prozent aller norwegischen Angestellten organisiert sind, erhalten sie zumindest Rechtsschutz von ihrer ursprünglichen Gewerkschaft. Einen ähnlichen Weg gehen auch schwedische Bildungsgewerkschaften.

Tarifverhandlungen auf norwegisch

In Norwegen gibt es keine Doppelstruktur aus Betriebs- und Personalräten auf der einen Seite und Gewerkschaften auf der anderen Seite wie in Deutschland. Personelle Ressourcen und Fortbildung der Mitglieder müssen allein aus Mitgliedsbeiträgen finanziert werden. Lediglich die gewählten Mitglieder von Verhandlungskommissionen für Tarifverhandlungen sind für ihre Tätigkeit von den Arbeitgeber*innen freigestellt. Dennoch leistete sich UEN eine Senkung des Mitgliedsbeitrags von 1,35 auf 1,25 Prozent des Monatseinkommens. Auch das Tarifgeschehen insgesamt unterscheidet sich von unserem. Die „heilige Kuh“ Tarifautonomie (engl: bipartisan system) ist in Norwegen wie in den meisten Ländern weitgehend unbekannt. Während Gewerkschafter*innen es sich hierzulande verbitten, dass Regierung und Parteien sich in Tarifauseinandersetzungen einmischen, gibt es in Norwegen einen regelmäßigen Dialog zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen moderiert von Regierungsvertreter*innen (tripartisan system). Bei aufgeheizten Konflikten in „relevanten“ Bereichen, wie einem Kitastreik, leitet die Regierung in der Regel schon nach kurzer Zeit eine Zwangsschlichtung mit verbindlichem Schlichtungsspruch (forced pay roll) ein. Ein mehrwöchiger Kitastreik wie ihn die GEW im Frühjahr und Sommer 2015 in Deutschland oder 1989/90 in Berlin führte, wäre in Norwegen nicht vorstellbar.

Nordische Debattenkultur

Die Delegierten überarbeiteten auch das UEN-Grundsatzprogramm “Sammen utdanner vi Norge” (Zusammen bilden wir Norwegen, we educate Norway) mit Anforderungen an qualitative Bildung, Weiterentwicklung des eigenen Berufes, Berufsethik, sozialpartnerschaftlichen Dialog, Tarifangelegenheiten und Fragen der Klimakrise als einen großen Schwerpunkt. Die Debattenkultur der UEN unterscheidet sich in Vielem von unserer. Diskutiert wird – Achtung, stereotyp – nordisch kühl. Zwischenrufe gab es keine, applaudiert wurde immer höflich aber meist zurückhaltend. Der Protest gegen die eingeladene Premierministerin Erna Solberg beschränkte sich auf ein Regenbogen-T-Shirt eines Delegierten, der gegen die noch praktizierten Konversionstherapien für Homosexuelle protestierte. Bei den GEW-Gewerkschaftstagen können sich geladene Politiker*innen ja oft des eisigen Windes vieler Delegierter sicher sein. Nach Pausen waren alle Delegierte auf die Minute wieder pünktlich im Saal.

Internationale Solidarität

Die GEW ist auf dem internationalen Parkett ein immer gern gesehener Gast. Unsere Bundesvorsitzende Marlis Tepe ist Vizepräsidentin des Weltverbandes der Bildungsgewerkschaften, der Bildungsinternationale. Das Interesse der norwegischen Kolleg*innen an den politischen Verhältnissen in Deutschland ist groß. Und so kamen wir auch auf den erstarkenden Rassismus in Europa und in Deutschland zu sprechen. Es ist beruhigend zu erleben, dass wir Gewerkschafter*innen uns über Landesgrenzen hinweg einig sind, dass man mit Rassist*innen nicht verhandelt. Oder anders ausgedrückt: Wer hetzt, fliegt! Keine der teilnehmenden Gewerkschaften ist bereit, Rassismus oder rassistische Äußerungen in den eigenen Reihen zu dulden. Ich habe andere europäische, auch deutsche Gewerkschaften mit weniger klaren Aussagen erlebt.