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Startchancenprogramm

Wie ein Tropfen auf den heißen Stein

Was erwarten die Schulen und die pädagogischen Kräfte vor Ort vom Startchancenprogramm? Ein Besuch an einer sogenannten Brennpunktschule in Bremerhaven.

„Wir sind desillusioniert“, sagt Elke Suhr von der Lutherschule in Bremerhaven. Viele pädagogische Fachkräfte seien ausgelaugt. Die Sozialpädagogin hofft dennoch auf eine Finanzierung längerfristiger Projekte durch das Startchancenprogramm. „Ein guter Kochkurs wäre schön, ein Tanzkurs, der jahrgangsübergreifend ein bis zwei Jahre läuft.“ (Foto: Gudrun Fischer)

Lautes Hämmern schallt über den Stadtteil Bremerhaven-Lehe. Wird gerade eine Windkraftanlage in den Meeresboden gerammt? Knallen Container auf ein Schiffsdeck? Oder kommt der Lärm von einer Fabrik? Fischfabriken gab es früher viele, aber fast alle sind geschlossen. Hafenumschlag boomt schon lange nicht mehr in Bremerhaven. Stattdessen bricht die Stadt die deutschen Arbeitslosenrekorde. Zurzeit sind annähernd 15 Prozent der Menschen ohne Arbeit, im benachbarten Bremen, das mit Bremerhaven das Land Bremen bildet, sind es 10 Prozent. Zum Vergleich: In Bayern suchen momentan nur knapp 4 Prozent der Erwerbsfähigen Arbeit. Bremerhaven hat etwa 115.000 Einwohnerinnen und Einwohner, viele Jahre lang zogen mehr Menschen weg als zu.

„Einer der ärmsten Stadtteile Deutschlands“, sagt die Sonderpädagogin Elke Suhr, „liegt hier.“ Wir sind an der Lutherschule, einer Ganztagsschule in Lehe. Die Straßen auf dem Weg hierher waren an diesem kühlen Morgen wie leergefegt. Auf den ersten Blick sieht der Stadtteil gar nicht so schlecht aus. Viele alte Backsteinhäuser, ein paar Bäume, eigentlich wirkt Bremerhaven-Lehe wie ein bürgerliches Viertel. Aber, sagt Suhr, die Wohnungen seien in schlechtem Zustand. Schimmel, kaputte Türen und Fenster, Überbelegung.

Niemand wolle hier wohnen, nur sehr mittellose Menschen müssten. Die Mieten sind niedriger als die am Stadtrand. Nicht nur viele Leute aus Dutzenden Ländern Europas und der ganzen Welt verschlägt es wegen der günstigeren Mieten hierher. In Bremerhaven leben Menschen, die in der vierten Generation Sozialhilfe bzw. Bürgergeld erhalten. „In den Häusern wohnen viele, nur auf der Straße sind sie kaum zu sehen“, erzählt Suhr.

„Denn manche Kinder kommen hierher und haben noch nicht einmal gelernt, einen Stift zu halten.“ (Elke Suhr)

Aber sie müssen ihre Kinder zur Schule schicken. Vor zehn Jahren lernten an der Lutherschule 230, jetzt sind es fast 300 Schülerinnen und Schüler. Nur die wenigsten Kinder können am ersten Schultag Deutsch. Sie besuchten selten oder gar nicht die Kita. Also bekämen die Kinder vom ersten Tag an keinen Deutschunterricht, sondern DaZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache), erklärt Suhr. Das bedeutet größeren Aufwand für die Lehrerinnen und Lehrer. Und vor allem für die Kinder. „Sie lernen in den vier Grundschuljahren weit mehr als andere Kinder.“ Deswegen ist eine Forderung an dieser Schule, dass die Grundschulzeit flexibel sein müsse.

„Manche Kinder brauchen eben fünf Grundschuljahre, um das Niveau anderer Kinder zu erreichen“, sagt Sonderpädagogin Suhr. Enorm wichtig wäre zudem eine Kita-Pflicht, wenigstens für ein oder zwei Jahre. „Denn manche Kinder kommen hierher und haben noch nicht einmal gelernt, einen Stift zu halten.“ Viele Familien im Stadtteil Lehe seien so arm, dass die Kinder morgens hungrig aus dem Haus gehen. „Gut, dass jetzt die Stiftung ,Brotzeit e. V.‘ zu uns kommt. Nach einem Frühstück lässt es sich besser lernen“, freut sich Suhr.

Mehr „bemuttern“ als unterrichten

Wird das Startchancenprogramm die Lage nachhaltig verbessern? Die Verhandlungen mit den anderen Bundesländern seien langwierig gewesen, sagt Schuldezernent Michael Frost aus Bremerhaven.

Ein paar Millionen Euro pro Jahr sind für die Stadt wohl zu erwarten. Für Dutzende Schulen. Einiges von dem Geld ist an Vorgaben gebunden. Aber über einen Teil des Geldes werden die Schulen frei verfügen können. Es sei alles noch zu unklar, um zu planen, sagt Sonderpädagogin Suhr. Pessimismus und Hoffnungslosigkeit sind beim Lehrpersonal der Lutherschule weit verbreitet. Viele sind wegen der großen Belastung ausgelaugt, der Krankenstand ist hoch. „Außerdem wird das Startchancen-Geld nicht den Fachkräftemangel beheben. Das Programm ist wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Deswegen sind wir desillusioniert“, erklärt Suhr.

Die Sonderpädagogin liebt ihren Beruf. Obwohl sie Landesvorstandssprecherin der GEW Bremen ist, besteht sie darauf, mit festen Stunden an ihrer Schule verankert zu bleiben. Besonders gerne geht sie mit den Kindern raus. „Wenn wir nach 20 Minuten ans Meer kommen, wundern sich die Kinder. Sie wussten gar nicht, dass sie in einer Stadt (fast) am Meer leben.“

„Jedes Kind hat einen ganz eigenen Bedarf.“

Suhr zeigt auf ein Graffiti, das ein Künstler vor einem Jahr mit den Kindern an die Mauer des Schulhofs gesprayt hat. Das sei ein erfolgreiches Projekt gewesen, „die Kinder hatten viel Spaß“. Leider blieb der Sprayer nur sechs Monate. Und der Kunstraum – ach ja. Der musste einem neuen Klassenzimmer weichen. Jetzt besitzt die Schule nur noch einen Werkraum. Auch andere Funktionsräume wurden wegen der steigenden Zahl der Schülerinnen und Schüler in Klassenzimmer umgewidmet. Inzwischen ist die Schule fast vierzügig statt wie früher dreizügig. In Bremen und Bremerhaven ist die Klassenstärke an die sogenannte Sozialstufe gekoppelt. Die Lutherschule hat die Sozialstufe 5, was bedeutet, dass es pro Klasse höchstens 21 Kinder geben darf*. Ab der 2. oder 3. Klasse steigt die Klassenstärke auf 24 Kinder.

„Jedes Kind hat einen ganz eigenen Bedarf“, so Suhr. Manche können nicht mit Gabel und Löffel umgehen. Die Lehrerinnen und Lehrer, erzählt sie, müssten mehr „bemuttern“ als unterrichten. Und nach dem Unterricht gehe es weiter mit Telefonaten, vor allem mit den Eltern – von denen die meisten gleichfalls wenig oder kein Deutsch können.

Offene Wünsche

Könnte das Startchancenprogramm trotzdem Entlastung bringen? Ein paar Wünsche gibt es schon. Vor allem hoffen die Lehrkräfte an der Schule auf die Finanzierung längerfristiger Projekte. „Ein guter Kochkurs wäre schön, ein Tanzkurs, der jahrgangsübergreifend ein bis zwei Jahre läuft.“ Aber es sei nicht einfach, gute Anbieter an die Schule zu locken. Sie scheuen sich, an einer „Brennpunktschule“ Arbeitsgruppen zu übernehmen. Dabei bräuchten die Kinder gerade hier kreative Kurse. Denn sie kommen oft traumatisiert, ideenlos oder abgestumpft an die Schule.

Die Bremerhavener Philharmoniker zum Beispiel besuchten die Schule eine Zeit lang. Ausgefallene Instrumente auszuprobieren, war eine ganz neue Erfahrung für die Kinder. Plötzlich zeigte sich, dass viele Schülerinnen und Schüler der Lutherschule musikalisch sind. Aber jetzt kommen die Philharmoniker nicht mehr. Das Projekt ist abgeschlossen. 

*Je nach sozialer Lage in ihrem Einzugsgebiet bekommt eine Grund-schule in Bremen und Bremerhaven eine Sozialstufe zwischen 1 und 5 zugewiesen. Faktoren, die für die Bemessung herangezogen werden, sind die Arbeitslosenquote, die Transferleistungsdichte oder der Sprachförderbedarf. Je nach Sozialstufe liegt die Klassenstärke -zwischen 21 und 24 Kindern.