Rechtspopulismus ist auf dem Vormarsch, Behauptungen ersetzen Fakten, der Ton in Debatten nimmt an Schärfe zu. Auf der Tagung „Wann, wenn nicht jetzt?“ im nordhessischen Hofgeismar waren sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Oktober einig: Die politische Bildung muss gestärkt werden. Ihre zentralen Forderungen: mehr Stunden im Lehrplan, mehr Fachlehrkräfte, mehr Weiterbildung, mehr Vernetzung. Politische Bildung könne einen Beitrag leisten, undemokratischen Entwicklungen entgegenzuwirken, sagte Bernd Overwien, Professor für Politikdidaktik an der Universität Kassel. Solange die Bedingungen für den Unterricht schlecht seien, könne sie allerdings „ihre volle Wirkung in der Schule nicht entfalten“.
Dass Lehrkräfte gute Chancen haben, junge Menschen zu erreichen, machte ein Vortrag der ZDF-Moderatorin Ilka Brecht deutlich. Auch öffentlich-rechtliche Medien hätten den Auftrag, politische Bildung zu vermitteln und Orientierungshilfe „in einer immer komplexeren und zunehmend polarisierten Welt“ anzubieten. Allerdings hätten es politische Formate im klassischen Fernsehen bei jungen Menschen schwer, berichtete die Redaktionsleiterin von „Frontal 21“. ARD und ZDF kämen beim jüngeren Publikum auf eine Quote von gerade mal 6,1 Prozent: „Wir schaffen es nicht, genug Aufmerksamkeit der jungen Zielgruppe auf uns zu lenken.“
Da habe Schule einen großen Vorteil: „Fernsehschauen muss ein junger Mensch nicht. Aber in die Schule müssen alle“, so Brecht. Im Netz nähmen Jugendliche meist nur Bruchstücke an Informationen auf, ein Klick auf einen Link – und schon seien sie wieder weg. Lehrkräfte hingegen hätten die Möglichkeit, kontinuierlich mit Schülerinnen und Schülern an einem Thema zu arbeiten, mit ihnen über Demokratie, Extremismus oder Europa zu diskutieren. „Das ist toll“, sagte die Journalistin. Zumal junge Menschen viel Vertrauen in Lehrkräfte hätten, diese kämen in dieser Hinsicht nach den Eltern an zweiter Stelle. „Aus diesem Vertrauen erwächst Verantwortung“, so Brecht.
„Grundschulen spielen eine wichtige Rolle, auch wenn es vielen nicht so bewusst ist.“ (Simone Abendschön)
Allerdings machte die Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar in Kooperation mit dem Fachgebiet Didaktik der politischen Bildung an der Universität Kassel auch deutlich: Im Schulalltag hat es politische Bildung schwer. Häufig unterrichteten Lehrkräfte das Fach, die dafür nicht ausgebildet seien, kritisierte Overwien. Zahlen aus Hessen und Nordrhein-Westfalen zeigten, dass vor allem an Haupt- und Realschulen teilweise bis zu 80 Prozent des Unterrichts fachfremd erteilt werden. Außerdem kritisierten die Veranstalter, dass Sozialkunde ebenso wie Geschichte und Erdkunde in den Stundentafeln fast überall auf eine „Randerscheinung“ reduziert würden. In Grundschulen spiele politische Bildung so gut wie gar keine Rolle; in weiterführenden Schulen würden die Fächer in der Regel in Einzelstunden unterrichtet, häufig nicht einmal in allen Jahrgängen der Sekundarstufe I.
Dabei ist die Wirkung politischer Bildung belegt: Der Erziehungswissenschaftler Hermann Josef Abs verwies auf die weltweite ICCS-Studie (International Civic and Citizenship Education Study), laut der sich 14-Jährige mit mehr Wissen eher zutrauten, politisch und sozial Einfluss zu nehmen. Zudem gehe politisches Fachwissen einher mit einer stärkeren Unterstützung von Toleranz und Gleichberechtigung. Wer mündige Bürger haben wolle, fügte Abs hinzu, müsse allerdings auch in nichtgymnasialen Lehrplänen festschreiben, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Alle Schülerinnen und Schüler müssten, und zwar am besten von Beginn an, gleichermaßen dazu befähigt werden, am politischen Leben teilzuhaben.
Die Politikwissenschaftlerin Simone Abendschön zeigte anhand einer Studie, dass schon Grundschüler über politisches Verständnis und Wissen verfügen. „Grundschulen spielen eine wichtige Rolle, auch wenn es vielen nicht so bewusst ist.“ Die Professorin verwies auf das Zitat des Soziologen Oskar Negt, demzufolge Demokratie die einzige Staatsform ist, die gelernt werden muss.
„Ohne Reform der Lehrerbildung geht es nicht.“ (Wolfgang Sander)
Die Tagung beschäftigte sich auch mit der Frage, wie politische Bildung gestärkt werden kann. Eine Forderung lautete, Politik, Wirtschaft, Geschichte und Geografie in einem Integrationsfach zu unterrichten. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Sander führte aus, dass es diesen Trend bereits gebe. Allerdings habe sich in den Ländern ein „Wildwuchs“ entwickelt: „Es gibt weder eine gemeinsame Fachbezeichnung noch ein gemeinsames Konzept“, so Sander. Der Wissenschaftler verwies auf die Vorteile eines Integrationsfachs, in dem Themen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet würden. Zudem erhalte es als Hauptfach mehr Gewicht.
Doch: „Ohne Reform der Lehrerbildung geht es nicht“, so Sander, der, weil sich die Inhalte über vier Fachgebiete erstreckten, eine „Ein-Fach-Lösung“ vorschlug. Ohne Kooperation in der Kultusministerkonferenz sei diese aber kaum machbar. Alles in allem: „Eine ziemlich große Baustelle.“ Deshalb forderte Sander als erste Schritte ernsthafte Anstrengungen zur Vernetzung, ein gemeinsames Fortbildungsangebot und eine engere Abstimmung bei den Lehrplänen. Sein Fazit: „Es muss etwas passieren, damit wir uns nicht ganz verirren.“
GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann betonte, dass es mit der Vermittlung von politischem Wissen allein nicht getan sei: Es müsse darum gehen, „Demokratie in der Schule erfahrbar zu machen“. Dafür sei erforderlich, die Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche zu stärken. Insbesondere gelte es, Schülerinnen und Schüler einzubeziehen, die Armut und Ausgrenzung erlebten; ebenso Kinder mit Behinderung oder Lernschwäche. Alle seien gefragt, miteinander das Gemeinwesen zu gestalten. „Wir brauchen junge Menschen, die Kompetenzen haben“, sagte Hoffmann, „und den Willen, die Gesellschaft mitzugestalten. Gerade jetzt, wo die Demokratie in Europa in Gefahr ist.“