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Islamismus

Stimmen aus dem „Brennpunkt“

Das Attentat auf Samuel Paty erfüllt mit tiefer Trauer und macht nachdenklich. Es sollte aber nicht zu einem Stigma für Schülerinnen und Schüler aus sogenannten Brennpunktschulen führen. Fünf Lehrkräfte aus Berlin melden sich zu Wort.

Statt über „Islam“, „Muslime“ und „Integration“ sollten wir über den Hass reden – ob islamistisch oder faschistisch –, der uns alle bedroht. (Foto: imago images/Ralph Peters)

Der französische Lehrer Samuel Paty ist Opfer eines brutalen, islamistisch motivierten Attentats geworden. Seiner Familie, seinen Freundinnen und Freunden, ihrer Trauer und ihrem Verlust gebühren unser tiefes Mitgefühl und unsere Solidarität. Wir wünschen ihnen von ganzem Herzen die Kraft und Liebe, um mit diesem unendlichen Schmerz zu leben. Samuel Paty hat sich – nach allem, was wir wissen – dem Thema Meinungsfreiheit auf sensible Weise genähert, indem er seinem Bildungsauftrag und den Empfindungen der Schülerinnen und Schüler gerecht wurde. Hierfür nahm er auch kritische und sensible Themen in seinen Unterricht auf und zugleich Rücksicht auf die Interessen, Lebenslagen und Gefühle der Schülerinnen und Schüler (zum Beispiel indem er ihnen die Möglichkeit gab, nicht an der Stunde teilzunehmen). Das konnte er nur, weil er die (Glaubens-)Überzeugungen und Werte der Jugendlichen kannte und ernst nahm. Diese beiden Dinge miteinander in Einklang zu bringen, ist Teil – vielleicht der spannendste – unseres Berufs als Lehrkräfte und die Grundlage für unsere tägliche Arbeit.

Über diese mussten wir zuletzt aber lesen, was der Deutsche Lehrerverband (DL), der Verband der Geschichtslehrer und andere aus dem Mord an Samuel Paty ableiteten. DL-Chef Heinz-Peter Meidinger sprach von einem „Druck“ auf Lehrkräfte – „vor allem in Brennpunktschulen mit einem hohen Anteil von Schülern mit einem entsprechenden Migrationshintergrund“, von einem „Klima der Einschüchterung“. „In Tausenden (sic!) Klassenzimmern geht die Angst um“, mahnte Autor Alan -Posener in der „Welt“. Lehrerinnen und Lehrer würden sich nicht mehr trauen, Filme wie „Schindlers Liste“ zu zeigen. Wieder einmal wird also über „Voraussetzungen für Integration“ geredet und mit Kopfschütteln festgestellt, dass mit muslimischen Schülerinnen und Schülern ja alles so schwierig sei.

Statt also wieder über „Islam“, „Muslime“ und „Integration“ sollten wir über den Hass reden – ob islamistisch oder faschistisch –, der uns alle bedroht.

So eine Verbindung von Konflikten in deutschen Klassenzimmern zu dem bestialischen Mord an Samuel Paty zu zeichnen, unterstellt muslimischen Schülerinnen und Schülern per se eine geistige Nähe zur Tat. Die Kinder und Jugendlichen in unseren Schulen und deren Eltern sind mehrheitlich muslimisch. Manche sind vor islamistischer Gewalt nach Deutschland geflohen. Denn auch die Opfer islamistischer Gewalt sind mehrheitlich muslimisch. Statt also wieder über „Islam“, „Muslime“ und „Integration“ sollten wir über den Hass reden – ob islamistisch oder faschistisch –, der uns alle bedroht.

Wir sollten vielleicht aber auch über eine Konflikt- und Medienkultur sprechen, in der fast jede Auseinandersetzung öffentlich werden und entgleisen kann. Und die eben genau jene Akteure auf den Plan ruft, die an Spaltung, Eskalation und Gewalt, aber nicht an Verständigung interessiert sind. Dazu gehört auch die Verallgemeinerung von Millionen Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland, das Subsumieren der Muslime zu einer scheinbar homogenen Gruppe.

Wir sind Lehrer aus einem sogenannten Brennpunkt, wir arbeiten an Schulen, die Herr Meidinger definitiv meint, wenn er von „Brennpunktschulen“ spricht. Wir haben uns zusammengetan, um diesem fast grundsätzlich negativ geführten Diskus unsere Perspektiven aus dem schulischen Alltag entgegenzusetzen. Denn es sind interessanterweise Texte aus dem Umfeld von Gymnasiallehrkräften, die nun wieder mahnend über die Verhältnisse an Schulen wie unseren sprechen. Deren Wissen über die Situation in Haupt- und Gesamtschulen in wenig privilegierten Stadtteilen stellen wir zumindest infrage. Solche Veröffentlichungen und die damit einhergehenden Verallgemeinerungen ärgern und verletzen uns aus mehreren Gründen.

Spiegel der Gesellschaft

Schulen sind immer ein Spiegel gesellschaftlicher Konflikte. In jeder Schule gibt es schwierige Haltungen und menschenfeindliche Positionen, gibt es Rassismus, Antisemitismus, Misogynie, Homophobie und Fundamentalismus. Diese existieren übrigens nicht nur bei Schülerinnen und Schülern – unterrichtete Björn Höcke (AfD) nicht zehn Jahre unbehelligt an einem hessischen Gymnasium Geschichte? Sich diesen Positionen entgegenzustellen, ist Teil unserer Haltung als Menschen, aber auch unserer Berufsauffassung als demokratische Lehrerinnen und Lehrer. Dass islamistische Ideologien in einem muslimisch geprägten, urbanen Stadtteil häufiger auftreten als in ländlicheren Gegenden, erklärt sich von selbst.

Nun ist es aber unsere Aufgabe als Lehrkräfte, uns mit den Lebenswelten der Jugendlichen – ob muslimisch, migrantisch oder auch nicht – auseinanderzusetzen. Sie besteht darin zu versuchen, ihre Perspektive auf die Welt zu verstehen und die Schülerinnen und Schüler dann in einen Lernprozess einzubinden, ohne dabei abwertend gegenüber ihnen oder tolerant gegenüber menschenfeindlichen Äußerungen zu sein.

Wir erleben die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern nicht als angstbesetzt – zumindest nicht von der Seite der Lehrkräfte!

Wir erleben die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern nicht als angstbesetzt – zumindest nicht von der Seite der Lehrkräfte! Wir versuchen, die Potenziale und Schwierigkeiten zu sehen, mit denen die Kinder und Jugendlichen Tag für Tag in die Schule kommen. Als Institution Schule stellen wir uns selbstverständlich menschenfeindlichen Äußerungen entgegen. Wir reden mit den jungen Menschen über die Anschläge in Halle und Hanau, über die Attentate auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Und auch über den grauenhaften Mord an Samuel Paty und die folgenden Anschläge haben wir nun mit ihnen gesprochen. In diesen Gesprächen haben wir es nicht einmal erlebt, dass die Gewalt ernsthaft gerechtfertigt wurde.

Wir stellen aber auch fest, dass sich viele Schülerinnen und Schüler von den Karikaturen verletzt und provoziert fühlen. Ist es aber nicht auch ihr gutes Recht, hierzu frei ihre Meinung zu äußern? Häufig wird diese andere Seite der Meinungsfreiheit, nämlich die begründete Ablehnung einer anderen Meinung oder Handlung, nicht miterzählt, obwohl sie für jede demokratische Gesellschaft so unerlässlich ist. Stattdessen wird der Umgang mit den Karikaturen zu einem Lackmustest für gelungene Integration gemacht. Ist das tatsächlich die Meinungsfreiheit, von der wir nun seit Wochen reden?

Scham und Verletzung

Wenn wir über Schule sprechen, sollten wir uns auch die Macht-Hierarchien vor Augen führen, die das System Schule nach wie vor konserviert. Wer den furchtbaren Mord ausnutzt, um Lehrerinnen und Lehrer zu Opfern von Druck und Gewalt zu stilisieren, verkehrt die schulischen und damit auch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Ungezählt sind die Berichte von Schülerinnen und Schülern of Color, die von ihren Lehrkräften bloßgestellt, mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert, beleidigt, ungerecht behandelt wurden.

Die Folgen sind in der Regel keine Denunziation oder Gewalt, sondern Scham und Verletzung. Lehrerinnen und Lehrer haben machtvolle Instrumente, können benoten, bestrafen und große Steine in Lebenswege legen. Immer wieder werden Schülerinnen und Schüler aus „Brennpunkten“ als aufmüpfig, schwierig, gewaltbereit markiert, während über die tägliche Gewalt der Ungerechtigkeit und der Erniedrigung, des Nicht-Gesehen-Werdens, der verbauten Chancen geschwiegen wird.

Wer menschenverachtenden Ideologien etwas entgegensetzen will, wer Fundamentalismus und Gewalt bekämpfen will, sollte von den „Brennpunktschulen“ lernen, anstatt sie zu denunzieren und Angst vor Schülerinnen und Schülern zu schüren.

Wer menschenverachtenden Ideologien etwas entgegensetzen will, wer Fundamentalismus und Gewalt bekämpfen will, sollte von den „Brennpunktschulen“ lernen, anstatt sie zu denunzieren und Angst vor Schülerinnen und Schülern zu schüren. Jeden Tag leben und lernen wir zusammen mit all unseren Geschichten, Sprachen, Religionen, Träumen und oft auch Problemen. Das ist nicht immer leicht und auch nicht frei von Konflikten. Aber wenn alle Beteiligten aneinander interessiert sind, entsteht dabei etwas Konstruktives, Friedliches, nämlich Bildung für beide Seiten. Die Idee einer Welt, in der Menschen zusammen leben und sich nicht misstrauen. Und die wollte wahrscheinlich auch Samuel Paty.

Repose en paix, Monsieur Paty.

Philipp Dehne, Nils Katz, Simon Klippert, Tobias Nolte und Burçak Sevilgen,  Lehrkräfte aus Berlin