1956, fünf Jahre vor dem Mauerbau: Bei einem Kinobesuch in Westberlin sehen die Abiturienten Theo Lemke (Leonard Scheicher) und Kurt Wächter (Tom Gramenz) in der Wochenschau Bilder vom ungarischen Volksaufstand gegen die russischen Besatzer. Die Ereignisse im sozialistischen Bruderland lassen sie nicht mehr los: Zurück in Stalinstadt (Eisenhüttenstadt) halten sie im Unterricht spontan eine Schweigeminute für die von sowjetischen Truppen getöteten Menschen des Freiheitskampfes ab. Der Geschichtslehrer fordert eine Erklärung – Erik Babinski (Jonas Dassler) stammelt: „Ein Zeichen des Protests.“ Die dramatischen Folgen, die sich in Kraumes Film „Das schweigende Klassenzimmer“ daraufhin entspinnen, basieren auf dem gleichnamigen Buch von Dietrich Garstka – einem jener 19 Schülerinnen und Schüler, die damals mit einer kurzen Geste den kompletten DDR-Staatsapparat alarmierten.
Rektor Schwarz (Florian Lukas) will den Vorfall intern regeln, FDJ-Sekretär Ringel (Daniel Krauss) schaltet indes direkt höhere Stellen ein. Und so rauschen erst Kreisschulrätin Kessler (Jördis Triebel) und dann Volksbildungsminister Fritz Lange (Burghart Klaußner) an, um das, was plötzlich „konterrevolutionärer Akt“ heißt, mit aller Härte aufzuklären. Wenn der Anführer nicht verraten werde, soll die ganze Klasse landesweit vom Abitur ausgeschlossen werden. Lange und Kessler bauen in Stasi-Verhörmanier mit Intrigenversuchen, Erpressungen und angedrohten familiären Enthüllungen einen immensen Druck auf die Jugendlichen auf, die beeindruckend standhalten. Ungeplant sind sie in den politischen Widerstand geschlittert und binnen einer Woche daran gewachsen. „Das haben die Funktionäre damals nicht verstanden“, sagt Garstka.
Und dann sind da natürlich noch die Eltern, von der plötzlichen Politisierung ihrer Kinder überfordert: Stahlkocher Hermann Lemke (Ronald Zehrfeld), der sich ein besseres Leben für Theo wünscht. Und der Stadtratsvorsitzende Hans Wächter (Max Hopp), dem Kurt keine Schande machen soll. Rückendeckung bekommen die Schülerinnen und Schüler nur von Pauls Onkel, dem Einsiedler Edgar (Michael Gwisdek), der auf einem heruntergekommenen Hof haust, mit anarchistischen Gedanken sympathisiert und die Jugendlichen heimlich den verbotenen Westsender RIAS hören lässt.
Das Schweigen der Eltern
Regisseur Kraume, der 2016 mit dem Politthriller „Der Staat gegen Fritz Bauer“ bereits sein Händchen für Nachkriegsstoffe bewies und dafür mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde, legt in 111 atmosphärisch starken und teils aufwühlenden Minuten präzise offen, wie die damals erst sieben Jahre alte DDR tickte. Wie bei vielen der Glaube an den Sozialismus als überlegenes System offenbar noch überzeugt und ungetrübt war. Oder wie sich die, deren vermeintlich makellose Biografie zu Kriegsende arge Kratzer erlitten hatte, in ein neues Leben retten wollten. Wie ganz grundsätzlich eine vom Zweiten Weltkrieg verstörte Nation versuchte, sich neu zu erfinden. Es sind die angerissenen Geschichten der auf ihre Weise ebenfalls schweigenden Eltern, die viel von Hilflosigkeit erzählen – und von dem Fundament aus Macht, Angst und Misstrauen, auf dem der ostdeutsche Staat von Beginn an basierte.
Glänzen kann in „Das schweigende Klassenzimmer“, der seine Weltpremiere im Februar bei der 68. Berlinale feierte, auch die junge Darstellerriege. Für Dassler, dessen persönliches Schicksal im Lauf des Films zu einem tragischen Höhepunkt führen wird, gab es dafür bereits den Bayerischen Filmpreis. Und mag man manchmal auch denken, es seien ausreichend Geschichten über Nazi-Deutschland, die Stasi-DDR und den Kalten Krieg verfilmt worden, so zeigen Dramen wie „Das schweigende Klassenzimmer“ dann doch, wie viele Stoffe diese Zeit noch auf Lager hat – auch für die heutige Generation von Schülerinnen und Schülern.