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DDS – Die Deutsche Schule

Recht auf Schulbildung einklagbar?

In ihrer ersten Ausgabe des Jahres 2024 setzt sich die GEW-Zeitschrift DDS – Die Deutsche Schule mit dem Recht auf Bildung auseinander. E&W sprach mit Julia Hugo, Autorin und Mitherausgeberin des Themenheftes.

Julia Hugo ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen und Vorstandsmitglied der Kommission Bildungsorganisation, Bildungsplanung, Bildungsrecht (KBBB) der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). (Foto: privat)
  • E&W: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im November 2021 in seinem sogenannten Bundes-notbremse-II-Beschluss die Schulschließungen im Rahmen der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Es hat aber betont, dass Kinder und Jugendliche ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht auf Schulbildung hätten. Sie haben diesen Beschluss als Zäsur bezeichnet. Warum?

Julia Hugo: Der Zäsurcharakter wird auch von anderen Kolleginnen und Kollegen herausgestellt. In den Entscheidungen, die das BVerfG bis zu diesem Beschluss von 2021 gefällt hat, hatten die Richterinnen und Richter offengelassen, ob sich ein Recht auf schulische Bildung aus dem Grundgesetz ableiten lässt.

  • E&W: Dieses Recht ist im Grundgesetz auch nicht explizit formuliert.

Hugo: Richtig. Wenn man die Entscheidungen des BVerfG aus den vergangenen Jahrzehnten genau liest, dann hat das höchste deutsche Gericht der Tendenz nach ein grundgesetzlich verankertes Recht auf schulische Bildung eher abgelehnt. Dies lässt sich historisch erklären: Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten sich entschieden, die Zuständigkeit hierfür den Ländern zu überlassen; deshalb findet sich das Recht auf schulische Bildung in einigen Länderverfassungen. In seinem Beschluss von 2021 gab das BVerfG seine Zurückhaltung auf und leitet aus dem im Grundgesetz festgeschriebenen allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Verbindung mit der staatlichen Schulhoheit ein subjektives Recht auf schulische Bildung ab.

  • E&W: Heißt das, dass Eltern jetzt vor das BVerfG ziehen können, etwa, wenn es in ihrer Kommune keine ausreichende Auswahl an weiterführenden Schulen gibt, der Schulweg ihrer Kinder zu lang ist oder der Schulunterricht aufgrund Lehrkräftemangels permanent ausfällt?

Hugo: Trägerinnen und Träger des Grundrechts sind zunächst Kinder und Jugendliche; Eltern können in ihrer Vertretungsmacht juristische Schritte einleiten und sich dabei auf den Beschluss des BVerfG von 2021 berufen. Bis solche Anträge vor dem BVerfG landen, muss zunächst grundsätzlich der Rechtsweg ausgeschöpft sein. Da der Beschluss vergleichsweise neu ist, wird auch unter Juristinnen und Juristen kontrovers diskutiert, welche faktischen Auswirkungen er haben wird.

  • E&W: In einem der DDS-Artikel schreiben Sie und Ihre Mitautorinnen und -autoren, dass die Erziehungs- und Bildungswissenschaften als Konsequenz des BVerfG-Beschlusses über Mindeststandards schulischer Bildung diskutieren müssen. Welche sind das?

Hugo: Die Abwehrdimension des Grundrechts auf schulische Bildung zielt zunächst darauf, Eingriffe staatlicher Maßnahmen in dieses Recht, wie sie zum Beispiel die Schulschließungen während der Covid-19-Pandemie darstellten, abzuwehren. Bemerkenswert ist unseres Erachtens aber die Leistungsdimension, das heißt der Mindeststandard, den der Staat garantieren muss. Das kann zum Beispiel die personelle Ausstattung betreffen, das Angebot an diversen Schulformen oder auch die Ausstattungsmerkmale der Schulgebäude. Hier hat die Debatte in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften aber gerade erst begonnen. Klar scheint bis dato nur zu sein, dass es nicht um an einem Leistungsoutput orientierten Standard geht …

  • E&W: … also nicht darum, welche messbaren Leistungen Schülerinnen und Schüler erbringen.

Hugo: Genau. Das BVerfG hat in seinem Beschluss von einem Mindeststandard schulischer Bildungsangebote gesprochen. Wobei das eine auch mit dem anderen zusammenhängt, das heißt, die Ausgestaltung des Bildungsangebots bedingt die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit. Hierbei ist aber der Kontext des Beschlusses des BVerfG von 2021 zu beachten: Das Gericht hat zum einen zwar festgestellt, dass Schulschließungen während der Pandemie einen gravierenden Eingriff in das Grundrecht auf schulische Bildung darstellten. Andererseits war dieser Eingriff aus Sicht der Karlsruher Richterinnen und Richter angesichts der Pandemielage noch gerechtfertigt. Das legt den Schluss nahe, dass eine deutliche und gravierende Unterschreitung eines Mindeststandards vorliegen muss, damit dies aus Sicht des BVerfG justiziabel ist.