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Berufsverbote

Rauswurf ohne Angabe von Gründen

Vom Radikalenerlass war auch Johannes Hartmann aus Friedberg in Hessen betroffen. Erst viele Jahre später durfte er in seinem Traumberuf als Lehrer arbeiten.

Johannes Hartmann (Foto: Nici Merz)

Ich musste erst mal die Akten suchen“, sagt Hartmann und schaut etwas gequält. Der Papierstapel erinnert den heute 73-jährigen Friedberger an eine Zeit, die er und viele andere als Willkür des Staates empfinden mussten. Der Radikalenerlass sorgte vor 50 Jahren dafür, dass vorgebliche „Verfassungsfeinde“ nicht in den Staatsdienst eintreten durften.

Zunächst schien für Hartmann alles glatt zu laufen. Nach Abitur und Studium folgte das Referendariat an der Liebigschule in Gießen. Der normale Weg für angehende Lehrkräfte. Hartmann war voller Tatendrang, als er 1978 nach dem 2. Staatsexamen eine Lehrerstelle an einer Schule bei Wetzlar (Hessen) zugewiesen bekam. Drei Tage, bevor es losgehen sollte, rief er zwecks Vorbereitung beim Schulleiter an und erfuhr: Er darf nicht Lehrer werden. Auskünfte erteile das Schulamt. Vom Regierungspräsidium erfuhr er schließlich: Er fällt unter den Radikalenerlass, kann seine Stelle nicht antreten. Das kam einem Berufsverbot gleich. „Meine Familie war in ihrer Existenz bedroht“, sagt Hartmann. Wie sollte es weitergehen?

Intransparentes Verfahren

Zunächst setzte sich die staatliche Willkür fort. Einen schriftlichen Bescheid über die Nichteinstellung erhielt Hartmann nicht, musste das Land auf Untätigkeit verklagen. Akteneinsicht wurde ihm lange verwehrt. Warum wurde er überhaupt abgelehnt? Als er die Akte endlich einsehen durfte, waren nur Schriftstücke enthalten, die er schon zugeschickt bekommen hatte. Die entscheidenden Unterlagen befanden sich in der Personalakte und beim Verfassungsschutz. Chancen auf Einsichtnahme gleich null. Hartmann kam das „kafkaesk“ vor: Vergleiche mit der Stasi kamen ihm in den Sinn. Das Verfahren war nicht nur völlig intransparent, sondern zog sich auch in die Länge. Was wurde ihm zur Last gelegt? „Ich war in einer K-Gruppe aktiv.“

Hartmann war Maoist, in Abgrenzung zur kommunistischen DKP, die der DDR stets die Treue hielt. Während des Studiums wurde er politisiert, engagierte sich gewerkschaftlich. Im April 1973 stürmten 60 Vermummte das Bonner Rathaus. Hartmann war bei der Demo dabei, „nicht aber beim Rathaussturm“. Er sei auch nicht, wie behauptet, verhaftet worden. „Es wurden lediglich meine Personalien aufgenommen.“ Gewalt habe er stets abgelehnt. Den staatlichen Behörden genügten nebulöse Anschuldigungen, um einen unbequemen Geist loszuwerden. Im Studienseminar rutschte Hartmann von einer „2“ auf eine „4 minus“ ab.

Ohne Rechtsschutz der Gewerkschaft hätte er sich die Klage nicht leisten können. Doch der Rechtsanwalt stand der DKP nahe; jener Partei, die, wie sich Hartmann erinnert, bei Demos einen Schlägertrupp mitlaufen ließ, um die K-Gruppen von der Teilnahme an der offiziellen DGB-Demonstration abzuhalten. Mit dem DKP-nahen Anwalt hatte Hartmann keinen Vertrag. Er schrieb die Begründung zur Klage letztlich selbst.

Umschulung zum Drucker

Das waren nicht die einzigen Probleme. „Ich musste meine Familie ernähren“, sagt Hartmann. Nach weiteren Schikanen zog er seine Klage gegen das Land zurück, schulte auf Drucker um und fand sich in einem Rechtsstreit mit seinem Arbeitgeber wieder, weil er sich für die Wahl eines Betriebsrates starkgemacht hatte. Danach fand er Arbeit als Gruppenleiter in der Druckerei einer Reha-Werkstatt in Frankfurt-Rödelheim und leitete später das Jugendgemeinschaftswerk Wetterau in Friedberg, wo er für die Grünen zwei Jahre lang Stadtverordneter war. In Friedberg arbeitete Hartmann mit jugendlichen Aussiedlern, seinen Wunschberuf hatte er nicht aufgegeben.

„Mit Mitte 40 war ich noch frisch, während manche Kollegen in meinem Alter schon kurz vor dem Burn-out standen.“ (Johannes Hartmann)

1992 – der Radikalenerlass war längst aufgehoben – startete Hartmann einen neuen Versuch. Diesmal klappte es. Nach drei Jahren an der Gesamtschule Altenstadt (Hessen) unterrichtete er an der Henry-Benrath-Schule in Friedberg Englisch, Erdkunde, Politik und Wirtschaft (PoWi) und Geschichte. Sieben Jahre lang war er auch ans Friedberger Burggymnasium abgeordnet, wo der aus der DDR geflohene Internatsschüler einst selbst das Abitur gemacht hatte. Bei den Schülern war Hartmann beliebt. „Er hat sich für uns engagiert, und man hat viel bei ihm gelernt“, sagt eine ehemalige Schülerin. Hartmanns Vorteil als „Spätberufener“: „Mit Mitte 40 war ich noch frisch, während manche Kollegen in meinem Alter schon kurz vor dem Burn-out standen.“

Auch außerhalb der Schule hinterließ Hartmann Spuren. Er hat sich für das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Ländern starkgemacht und das Internationale Zentrum mitbegründet; heute ist er Ehrenvorsitzender. Beim Runden Tisch für Flüchtlinge engagiert er sich ebenso wie in der AG Flüchtlingshilfe im Wetteraukreis. Er sei ein „engagierter und zugegebenermaßen etwas unbequemer Demokrat“, schrieb Hartmann 1992 in einer Stellungnahme zu seinem Verfahren. Mit seinem Leben ist er „rundum zufrieden“. Das Berufsverbot empfand er damals wie heute als „schlimme politische Unterdrückung“. Nichts, an das man sich gerne erinnert. Und damit schließen wir die Akten wieder.

Nachdruck aus der Wetterauer Zeitung vom 27. Januar 2022

Am 28. Januar 1972 beschlossen die SPD/FDP-Bundesregierung und die Landesregierungen den sogenannten Radikalenerlass. Links- und Rechtsradikale sollten vom öffentlichen Dienst ferngehalten werden; tatsächlich waren überwiegend Linke davon betroffen – während Altnazis bereits seit 1950 wieder in den Staatsdienst aufgenommen wurden. Kritiker sprachen von „Berufsverboten“, da Eisenbahner, Lehrkräfte oder Postler ihrem erlernten Beruf nur im öffentlichen Dienst nachgehen konnten. 3,5 Millionen Menschen wurden überprüft. Die Folge: 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Einstellungen und 256 Entlassungen.

Der Radikalenerlass galt bis 1979. Als „erster Berufsverbotsfall in Hessen“ gilt die Entlassung der Wetterauer Volkshochschulleiterin Barbara Degen im November 1974. Degen, vormals SPD-Mitglied, war zur DKP gewechselt. Der CDU-Kreisvorsitzende Horst Geipel nannte Degen eine „rote Keule“, die CDU setzte sich für die Entfernung Degens ein. Erst später wurde bekannt, dass Geipel als 17-Jähriger in die NSDAP eingetreten und im Zweiten Weltkrieg SS-Untersturmführer war.