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PISA-Studie 2022

Schlechtes Zeugnis für das deutsche Bildungssystem

Die achte PISA-Studie wirft Deutschland auf das Niveau der Jahrtausendwende zurück. Fast einem Drittel fehlen grundlegende Kompetenzen in Mathematik und die Lebenschancen werden weiterhin stark von der Herkunft geprägt. Was jetzt zu tun ist.

„PISA-Schock 2.0“ – Die Ergebnisse der PISA-Studie 2022 bezeichnete GEW-Vorsitzende Maike Finnern als erschütternd.

Wer sich an das deutschlandweite Entsetzen zur 2001 veröffentlichten ersten PISA-Studie erinnert, erlebte am 5. Dezember 2023 ein Déjà-vu. Über mehrere Folgestudien war es seit 2001 zunächst erfreulich bergauf, seit 2015 aber wieder bergab gegangen. „Nun erleben wir einen Abfall in noch nie zuvor gesehenem Ausmaß“, erklärte PISA-Autor Francesco Avvisati bei der Vorstellung der achten Auflage der OECD-Untersuchung der Bildungskompetenzen von 15-Jährigen in Berlin.

Tatsächlich sank die durchschnittlich erreichte Punktezahl binnen vier Jahren in Mathematik um 25, im Lesen um 18, in den Naturwissenschaften – weiter die Disziplin, die deutsche Jugendliche am besten können – um 11 Punkte. Laut OECD-Faustregel entsprechen 25 bis 30 Punkte einem Schuljahr. Damit wurden in allen drei Kompetenzbereichen niedrigere Werte erreicht als 2001.

 

Enger Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg

Sorgen bereitet nicht nur der OECD vor allem der „Zustand der Chancengleichheit in Deutschland“. Zwar hat sich auch die Spitzengruppe minimal verkleinert. Im Großen und Ganzen aber kann privilegiertem Nachwuchs weder eine Pandemie noch Lehrkräftemangel oder Reformchaos viel anhaben. 31 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland leben in so guten Verhältnissen, dass sie sozioökonomisch weltweit zum obersten Fünftel gehören. Statistisch erreichten sie mit durchschnittlich 534 Punkten in Mathematik „einen der höchsten Werte für Schüler*innen mit ähnlichem sozioökonomischem Hintergrund“, so die OECD.

Der Durchschnitt in Deutschland beträgt gerade einmal 475 Punkte. Das bedeutet: Die Gruppe jener, die einfachste Aufgaben nicht lösen können, ist am anderen Ende des sozialen Gefüges besonders groß. Von 18 auf 30 Prozent stieg im Vergleich zu 2012 die Anzahl der 15-Jährigen, die es in Mathematik nicht über die unterste Kompetenzstufe hinaus schaffen. „Diese Jugendlichen sind nicht in der Lage, einfache Alltagssituationen mathematisch darzustellen, etwa ob sich ein Sonderangebot im Supermarkt lohnt“, so Avvisati. Im Lesen gilt Vergleichbares für 26, in den Naturwissenschaften für 23 Prozent.

Ein Risikofaktor dafür, derart abgehängt zu werden, ist – auch unabhängig vom sozioökonomischen Status – ein Migrationshintergrund. Als solchen zählt die OECD (anders als viele andere Studien) nur, wenn man selbst oder beide Elternteile im Ausland geboren wurde(n). Eins von beiden trifft auf gut ein Viertel der 15-Jährigen hierzulande zu. Fast zwei von drei unter ihnen (63 Prozent) sprechen zu Hause meist kein Deutsch.

 

 

Leistungen sanken OECD-weit

Dass Deutschland mit diesen Ergebnissen immer noch knapp über Durchschnitt ist, liegt an dem „beispiellosen Leistungsrückgang“, den die OECD weltweit feststellte. Doch von diesem gibt es Ausnahmen: Eine Reihe ostasiatischer Länder kamen – jedenfalls in Sachen messbare Kompetenzen in den drei Testbereichen – offensichtlich unbeschadet durch die jüngste Zeit. Nahezu uneinholbarer PISA-Spitzenreiter ist Singapur. Aber auch die Schweiz hat sich nicht verschlechtert – und damit übrigens ein Land, in dem der Anteil zugewanderter Schülerinnen und Schüler doppelt so hoch ist wie in Deutschland.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ließ sich bei der PISA-Präsentation von Staatssekretär Jens Brandenburg vertreten. Der konstatierte ein „alarmierendes Gesamtbild“, und kündigte an, der Bund werde „weiterhin helfen“. Das Startchancenprogramm, mit dem ab 2024 bundesweit 4.000 Schulen in benachteiligten Vierteln unterstützt werden sollen, sei „nötiger denn je. Es geht um nicht weniger als die Zukunft“. Katharina Günther-Wünsch (CDU), Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), verwies auf die jüngst begonnene stärkere Kooperation mit der Jugend- und Familienministerkonferenz: „Wir müssen vor Eintritt in die Schule anfangen.“ Die Berliner Senatorin verwies zudem auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie: Laut PISA gaben 71 Prozent der 15-Jährigen hierzulande an, dass in ihrem Schulgebäude mehr als drei Monate kein Unterricht stattfand; weit mehr als international.

„Wir brauchen einen ganzheitlichen Blick auf Bildung statt Output-Orientierung und wesentlich mehr Ressourcen etwa für die durchgängige Förderung von Sprach- und Lesekompetenzen sowie für bessere Lern- und Arbeitsbedingungen.“ (Anja Bensinger-Stolze)

Die GEW betrachtet die Pandemie lediglich als verschärfenden Faktor – das berühmte Brennglas, unter dem Probleme deutlicher hervortreten. „Deutschland setzt die falschen Prioritäten, das zeichnet sich seit Jahren ab“, erklärte Anja Bensinger-Stolze. Das GEW-Vorstandsmitglied für Schule forderte einen „ganzheitlichen Blick auf Bildung statt Output-Orientierung und wesentlich mehr Ressourcen etwa für die durchgängige Förderung von Sprach- und Lesekompetenzen sowie für bessere Lern- und Arbeitsbedingungen“. Aber auch damit sei es nicht getan: Angesichts des „eklatanten Gerechtigkeitsproblems“ gehöre das große Ganze in den Blick genommen: „Von der Schulstruktur bis zur sozialen Schere in der Gesellschaft braucht es einen Masterplan“, so Bensinger-Stolze.
 

„Wenn es uns nicht gelingt, allen Kindern und Jugendlichen gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, gefährden wir unsere Demokratie.“ (Maike Finnern)

Nach der Vorstellung der Studie machten sich Bundesschülerkonferenz, Bundeselternrat und GEW bei einer gemeinsamen Pressekonferenz für den großen Wurf stark. GEW-Vorsitzende Maike Finnern forderte, Ungleiches endlich auch ungleich zu behandeln. „Schulen in schwieriger Lage müssen ganz gezielt gefördert werden. Wenn es uns nicht gelingt, allen Kindern und Jugendlichen gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, gefährden wir unsere Demokratie“, erklärte Finnern. Florian Fabricius, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, wies darauf hin, was außer Mathe, Lesen und Naturwissenschaften noch alles in den Schulen zu kurz kommt: Wenn jeder und jede Fünfte von Mobbing berichten – auch danach hat PISA gefragt –, sei die psychische Gesundheit ungezählter Jugendlicher in Gefahr. KMK-Präsidentin Günther-Wünsch, die ebenfalls auf der Pressekonferenz erschien, sicherte zu, an der Behebung des eklatanten Fachkräftemangel zu arbeiten: „Das braucht Zeit und Planung. Aber es muss angegangen werden.“ OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher hatte es bei der Online-Präsentation der Ergebnisse in Paris so formuliert: „Lernqualität hängt von nichts so sehr ab wie von Lehrkräften.“

Info: PISA steht für „Programme for International Student Assessment“ und ist die größte internationale Schulleistungsvergleichsstudie. Erfasst werden die Kompetenzen von 15-Jährigen beim Lesen, in Mathematik und den Naturwissenschaften. Seit dem Jahr 2000 führt die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) die Studie alle drei Jahre durch. Die wegen der Pandemie ein Jahr verspätete PISA-Erhebung 2022 hatte Mathematik zum Schwerpunkt.  Außerdem wurden kreatives Denken und finanzielle Allgemeinbildung untersucht; diese Ergebnisse folgen aber erst 2024.

690.000 Schüler*innen in 81 Ländern absolvierten je zwei einstündige Tests; in Deutschland gab es 6.116 Teilnehmende. Die Tests bestehen aus Multiple-Choice-Aufgaben und Aufgaben, bei denen die Jugendlichen Antworten formulieren. Ein weiterer Fragebogen befasst sich mit den Einstellungen, Interessen, Schul- und Lernerfahrungen sowie dem Zuhause der Jugendlichen. Auch die Schulleitungen füllen einen Fragebogen aus.