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Niedersachsen: „Entwicklungsland“ mit Potenzial

E&W setzt die Länderserie zur Inklusion mit einem Blick nach Niedersachsen fort. Das Flächenland im Norden geht sehr unterschiedlich mit Inklusion um: In einigen Regionen gibt es jahrelange Erfahrungen, in anderen fangen die Schulen gerade erst an.

Leseunterricht in der Grundschule Sandhorst in Aurich: Mühsam buchstabiert sich Sven (Name geändert) durch den Text, er sagt „Grachen“ statt „Drachen“. „Stammeln“ nennt sich diese Sprachstörung. Seine Mutter wollte den Jungen auf eine Förderschule schicken, die Schulbehörde lehnte ab: Zum Schuljahr 2013/14 wurde die Inklusion in Niedersachsen verpflichtend eingeführt. Die Förderschulen im Bereich Lernen nehmen keine Erstklässler mehr an, die nächste Sprachheilschule ist weit. Inzwischen macht Sven in der Regel-Grundschule große Fortschritte. Als „förderbedürftig“ oder „Inklusionskind“ gilt er nicht: „Wir brauchen kein Etikett, um guten Unterricht zu machen“, sagt Franz Kampers, Vorstandsmitglied des GEW-Kreisverbands Aurich. Der Sonderpädagoge wird von der Förderschule Aurich an die Grundschule entsandt, wo er alle Klassen mit je zwei Stunden pro Woche betreut, obwohl zurzeit kein Kind amtlich als förderbedürftig eingestuft ist. Die sogenannte sonderpädagogische Grundversorgung komme der ganzen Klasse zugute, erklärt Kampers: „Natürlich wissen wir, wer mehr Hilfe braucht als andere. Aber statt mich nur um Einzelne zu kümmern, unterstütze ich die Klassenlehrkräfte.“ Sein Fazit: „Wir stehen bei der Inklusion gut da.“

Aber das gilt nur für die Regionen des Flächenlandes, in denen bereits in den 1980er-Jahren Integrationsklassen entstanden sind. In anderen Teilen des Landes begann die Arbeit deutlich später. Entsprechend uneinheitlich ist das Bild.

Inklusions-Entwicklungsland?

Auf den ersten Blick sieht Niedersachsen aus wie ein Inklusions-Entwicklungsland. Nur elf Prozent der Kinder mit festgestelltem Förderbedarf besuchen Regelschulen, ergab die jüngste Studie der Bertelsmann Stiftung (siehe Kasten S. 33). Damit landet Niedersachsen mit weitem Abstand auf dem letzten Platz – in den „Vorzeige-Ländern“ Bremen und Schleswig-Holstein wird über die Hälfte der Förderkinder inklusiv beschult. Aber der erste Blick täuscht. Denn Niedersachsen stuft Kinder wesentlich seltener in die Kategorie „förderbedürftig“ ein als andere Bundesländer – nur 4,9 Prozent eines Jahrgangs. In Mecklenburg-Vorpommern sind es elf, im Bundesschnitt 6,4 Prozent.

„In Niedersachsen wird gründlich geprüft, bevor ein Kind diagnostiziert wird“, freut sich Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) und lobt die „langfristig angelegten Integrationskonzepte“. Seit 1993 erlaubt das Schulgesetz „gemeinsame Erziehung und Unterrichtung“ für Kinder mit und ohne Behinderung an Grundschulen, vorausgesetzt, im Haushalt sind Mittel übrig. Ab diesem Zeitpunkt wurden unter dem Motto „Lernen unter einem Dach“ Integrationsklassen eingerichtet – wenn Kommunen und Schulträger Modellversuche vorantrieben, oft unterstützt durch die GEW-Kreisverbände.

Im Jahr 2000 gab es in Niedersachsen 242 Integrationsklassen an weiterführenden Schulen, 2011 gut 700 – an der Hälfte der Grundschulen wurde integrativ unterrichtet. Die politische Bewertung war kontrovers: Der damalige Kultusminister Bernd Althusmann (CDU) sah das Land „gut für die Inklusion“ aufgestellt, während Frauke Heiligenstadt, seinerzeit bildungspolitische Sprecherin der SPD im Landtag, der CDU vorwarf, sie habe durch „Wegducken und Aussitzen“ Zeit verloren, in der die Schulen sich auf die neuen Anforderungen hätten einstellen können.

Seit Sommer 2013 ist die Regelschule für Kinder mit Förderbedarf die erste Anlaufstelle, die Förderschule wird immer mehr zur Ausnahme. Während früher die Schulbehörde entschied, haben nun die Eltern die Wahl.

Lehrkräfte und Eltern ­skeptisch

Doch ausgerechnet seit dem politischen Bekenntnis zur Inklusion hat sich die Lage eher verschlechtert – zumindest in der Einschätzung vieler Lehrkräfte und Eltern. Die einen werden stark belastet, weil sie ohne Vorbereitung heterogene Klassen übernehmen müssen, die anderen befürchten, dass ihre Kinder zu wenig Förderung erhalten.

„Wir haben unseren Sohn definitiv nicht an einer Regelschule gesehen“, sagt Bianca Meyer. Der Junge hat eine Sprachstörung und autistische Züge: „Wenn er nicht verstanden wird, wird er aggressiv. Und zwei Stunden Förderung pro Woche an der Regelschule sind ein Witz.“ An der Sprachheilschule Neerstedt mit ihren kleinen Klassen sei der Junge dagegen aufgeblüht, so Meyer. Mit anderen Eltern startete sie 2013 eine Petition für den Erhalt der Förderschulen, am Ende unterschrieben fast 60 000 Menschen. „Damit hatten wir nie gerechnet“, sagt die Mutter. Die Bewegung pro Förderschulen machte bundesweit Furore, auch in anderen Ländern laufen Petitionen. Die niedersächsische Initiatorengruppe reiste nach Hannover und übergab ein eigenes Konzept an Kultusministerin Heiligenstadt, die zurückhaltend reagierte. Die Opposition dagegen sprang der Initiative zur Seite: „Rot-Grün tritt den Elternwillen mit Füßen“, so der schulpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, André Bock. „Mit der Brechstange“ wollten SPD und Grüne die Inklusion durchsetzen.

Die rot-grüne Landesregierung, die seit 2013 im Amt ist, arbeitet derweil schon an der nächsten Gesetzesnovelle. Zumindest in der Sparte „Fortbildung zur Inklusion“ soll Niedersachsen bundesweiter Vorreiter werden, kündigte das Kultusministerium an. Bis 2020 sollen alle 20 000 Lehrkräfte der 1 700 Grundschulen entsprechende Seminare durchlaufen. Solche Qualifizierungskonzepte hatte die GEW bereits 2013 angemahnt. Den Eltern, die für den Erhalt von Sonderschulen kämpfen, schlägt das Ministerium einen Kompromiss vor, um eine besondere Förderung der Kinder mit Sprachschwächen zu gewährleisten. Ein weiterer Punkt betrifft die Struktur: Vor Ort sollen „Regionalstellen für schulische Inklusion“ (Reschi) die Steuerungsaufgaben übernehmen, die bisher Förderzentren innehatten. Die GEW Niedersachsen begrüßt das Modell der „Reschis“, da sie die Schulen entlasten. Grundsätzlich übt die Gewerkschaft aber Kritik daran, dass die Förderschulen mit den Schwerpunkten Lernen und Sprache nicht zügiger auslaufen. „Auch in der Sekundarstufe brauchen alle Kinder den Rechtsanspruch auf den Platz an einer allgemeinen Schule“, sagt Landesvorsitzender Eberhard Brandt. Da es immer weniger Förderschulen gebe, seien die Wege inzwischen „unzumutbar weit“: „Doppelsysteme müssen abgeschafft werden“, fordert Brandt.

Kein Königsweg

Dass mit der Gesetzesnovelle alle Fragen beantwortet und alle Probleme gelöst werden, glaubt niemand. Dagegen sprechen schon die Zahlen: Zwar besuchen weniger Kinder Förderschulen – dies betrifft aber vor allem die Mädchen und Jungen mit körperlichen Handicaps und Lernschwächen. Störungen im Bereich geistige sowie sozial-emotionale Entwicklung führten Kinder dagegen eher in Richtung Förderschule, erklärt Hubert Kallien. Der ehemalige Förderschulleiter in Bad Bevensen überprüfte Daten für den Zeitraum zwischen 2000 und 2013 und stellte fest, dass die Zahl der sonderpädagogischen Lehrerstunden in 13 Jahren um 15 Prozent gestiegen ist. Sein Fazit: Kinder würden weiterhin „in Förderschulen ausgeschult“, gleichzeitig finde eine „Sonderschulpädagogisierung“ der Regelschulen statt. Fachlehrkräfte aber – der nächste Stolperstein auf der Baustelle Inklusion – fehlen schon heute.