Kinderrechte und Kinderarmut
„Alles ist immer ganz schnell weg“
Kostenloses Frühstück, Zirkustraining im Sportunterricht, Gitarre lernen, Theater spielen – und Unterstützung für die ganze Familie. Die Wilhelm-Hauff-Schule in Darmstadt-Eberstadt zeigt, wie Folgen der Armut bei Kindern gemildert werden können.
Vor der ersten großen Pause schnippeln sie Paprikas, Möhren, Bananen und Äpfel in kleine Stücke, waschen Weintrauben, schälen Mandarinen – und stellen die fertigen Obstteller auf einen Servierwagen. Ein blonder Junge in Jogginghose und zerschlissenen Spiderman-Hausschuhen klopft behutsam an die Tür. „Guten Morgen“, ruft Inga Schmiedl von der Mobile Praxis g.GmbH herzlich. „Magst du dir einen Teller aussuchen?“ Der Schüler strahlt, nimmt einen Porzellanteller in beide Hände und tapst damit zurück in sein Klassenzimmer: Dort geht das Obst reihum, alle können sich etwas nehmen. Aus jeder Klasse der Wilhelm-Hauff-Schule holt ein Kind einen Teller für den gemeinsamen Snack. „Viele Kinder kommen in die Schule, ohne zu Hause gefrühstückt zu haben“, berichtet Sozialpädagogin Sabine Wilhelm, die gemeinsam mit Schmiedl das Team der Mobilen Praxis an der Grundschule leitet, „und ohne gefüllte Brotdose.“
Rings um die Wilhelm-Hauff-Schule reiht sich Hochhaus an Hochhaus, dazwischen Aldi und Woolworth. Die Kirchtannensiedlung in Eberstadt-Süd gilt in Darmstadt als sogenanntes Brennpunktviertel: Überdurchschnittlich viele Familien sind arm und auf Sozialleistungen angewiesen. „Darunter dürfen die Kinder nicht leiden“, betont Wilhelm. Ein kostenloses Frühstück in der Schule sei eine wichtige Maßnahme gegen Kinderarmut. Sie könnten auch einfach nur einzelnen Kindern einen Müsliriegel oder Apfel in die Hand drücken. „Aber das wäre ja furchtbar, so eine Stigmatisierung.“
„Es gibt Kinder, die in der Schule morgens ihr erstes nettes Wort hören.“ (Inga Schmiedl)
Hinzu kommt: Viele Kinder hätten vielleicht einen Toast mit Nutella dabei, Chips oder Chicken Nuggets vom Vortag. „Sie sollen auch etwas Gesundes bekommen, ein paar Vitamine.“ Zudem gehe es um viel mehr als nur ums Essen. Die Kolleginnen schneiden sorgfältig alles klein und richten die Teller liebevoll her, „so etwas kennt nicht jedes Kind“. In einigen Familien arbeiten die Eltern im Schichtdienst und schlafen morgens noch, andere sind psychisch krank. „Es gibt Kinder, die in der Schule morgens ihr erstes nettes Wort hören.“
Eltern stärken
Die meisten Familien hätten sich nicht freiwillig ausgesucht, in Eberstadt-Süd zu wohnen, stellt die Geschäftsführerin der Mobilen Praxis, Susanne Flath, klar. „Sie haben wenig Wahl.“ Ein Schwerpunkt der Sozialarbeit ist, die Eltern zu stärken. Einmal pro Woche lädt Flath in der Schule zum Elterncafé ein. Hier unterstützt sie auch dabei, sich mit Ämtern und Behörden zurechtzufinden und Anträge zu stellen. „Zunächst geht es um die Grundsicherung“, betont die Sozialpädagogin: dass Geld für die Miete da ist, die Familie eine Wohnung hat und ihr Aufenthaltsstatus sicher ist. Viele Familien sind neu in Deutschland, mit der Sprache hapert es oft noch. „Wir kommen mit ihnen ins Gespräch und helfen ihnen, im Stadtteil gut anzukommen“, ergänzt Schmiedl. Wie funktioniert die Anmeldung für die Kita? Wo gibt es schöne Spielplätze? Wo können sie andere Menschen kennenlernen?
„Einige Eltern schaffen es einfach nicht, alle Bedürfnisse ihrer Kinder im Blick zu haben.“ (Susanne Flath)
Mitunter lebten sechs Menschen in einer Zweizimmerwohnung, viele Eltern litten unter Schulden oder anderen Sorgen, gibt Flath zu bedenken. Kein Wunder, dass ein Kind etwa seinen Turnbeutel vergisst. Deshalb verzichtet die Grundschule auch bewusst auf Hausaufgaben und setzt auf Lernzeit, also auf zusätzliche, von Lehrkräften begleitete Übungsstunden in der Einrichtung. „Einige Eltern schaffen es einfach nicht, alle Bedürfnisse ihrer Kinder im Blick zu haben“, erklärt die Sozialpädagogin. Zum Beispiel, sie im Verein anzumelden, zum Sport zu bringen oder ihnen nachmittags bei den Hausaufgaben zu helfen. Natürlich gebe es auch viele Eltern, die sich großartig um ihre Kinder kümmern und bei Festen leckere Speisen fürs Büffet mitbringen. Aber eben nicht alle.
„Es geht darum, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken.“ (Sabine Wilhelm)
Deshalb spielen die Sozialarbeit und die enge Kooperation mit den Lehrkräften der Schule eine so wichtige Rolle. Die Fachkräfte bauen Beziehungen zu den Kindern auf – und gucken, was diese brauchen. Friert ein Schüler im Winter, besorgen sie kurzerhand bei der Kleiderkammer der katholischen Kirchengemeinde eine warme Jacke. Auch die Freizeitaktivitäten sollen nicht zu kurz kommen. In AGs können die Kinder nachmittags Trompete und Gitarre lernen, Trampolin springen oder Theater spielen. Mit einem Waldpädagogen erkunden die Klassen die Natur, ein mobiler Streichelzoo bringt Meerschweinchen und Kaninchen auf den Schulhof. Und für alle 4. Klassen bietet Circus Waldoni ein professionelles Zirkustraining. „Es geht darum, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken“, sagt Wilhelm.
Kostenloses Frühstück, Lernhilfe und Deutschkurse
Das kostenlose Frühstück, die AGs, Ausflüge und noch viel mehr finanziert die Dotter-Stiftung. „Das ist ein absoluter Segen für den Stadtteil“, findet Wilhelm. Nur ein paar Meter von der Grundschule entfernt befindet sich das Familienzentrum „Gemeinsam stark in Eberstadt“: Dort wird mehrmals pro Woche ein offener Eltern-Kind-Treff angeboten, dienstags gibt es Musik und donnerstags einen Treff für Familien aus der Ukraine. Bei Bedarf erhalten Eltern auch individuelle Unterstützung. „Im Stadtteil gibt es viele tolle Angebote“, sagt Anne Akinsara-Minhans von Mobile Praxis, zuständig für die Verwaltung des Familienzentrums. Deshalb haben sich alle Träger zusammengeschlossen, die schon lange im Stadtteil aktiv sind – unter anderem Caritas, Kirche, Eberschaftshilfe und Mobile Praxis, unterstützt von der Bezirksverwaltung und der Dotter-Stiftung – und haben das Familienzentrum vor zwei Jahren gegründet.
„Die Kinder werden hier gesehen – als Individuum und als Teil eines Ganzen.“
„Die Angebote richten sich immer danach, was die Familien brauchen“, erläutert Akinsara-Minhans. Weil so oft Eltern nachgefragt haben, bietet die Mobile Praxis jetzt zum Beispiel an zwei Nachmittagen eine offene Lernhilfe an: Alle Kinder können vorbeikommen, wenn sie Hilfe für eine Klassenarbeit oder eine Präsentation benötigen. „Das Angebot richtet sich explizit an Familien, die sich keine Nachhilfe leisten können.“ Und weil auch immer wieder gerne Mütter mitkämen, die nicht gut Deutsch sprechen, gibt es für sie jetzt ein eigenes Lernangebot.
Was Wilhelm an der Arbeit in Eberstadt besonders schätzt: „Die Kinder werden hier gesehen – als Individuum und als Teil eines Ganzen.“ Auf dem Pausenhof kommt ein Mädchen angehüpft und ruft fröhlich: „Hallo, Frau Wilhelm!“ Die Drittklässlerin erzählt, dass ihre Mutter gerade mit dem vierten Kind schwanger sei. Die Sozialpädagogin nimmt sie in den Arm. „Ich kenne sie, seit sie ein Baby war“, berichtet sie. Damals besuchte sie die Familie im Auftrag des Jugendamts mehrmals pro Woche, um den Kinderschutz sicherzustellen, war auch später in der Kita als Fallberatung weiter für das Mädchen zuständig. „Es ist herrlich, die Entwicklung der Kinder zu sehen“, sagt Wilhelm.
„Wichtig ist, dass die Kinder jederzeit Ansprechpartnerinnen und -partner haben.“
In der Pause sind an der Wilhelm-Hauff-Schule auf dem Schulhof zwölf Kolleginnen und Kollegen der Mobilen Praxis im Einsatz. Eine Sozialpädagogin schwingt ein Springseil, ein paar Meter weiter spielt ein Kollege mit einem Schüler zu zweit Federball. „Wichtig ist, dass die Kinder jederzeit Ansprechpartnerinnen und -partner haben“, erläutert Wilhelm. „Sonst geht es hier ziemlich ab.“ Einige Schüler würden dann ziellos herumlaufen und andere Kinder schubsen. Oft stecke der Wunsch dahinter, in Kontakt zu treten. Aber sie müssten noch lernen, wie so etwas gelinge, ohne andere Kinder zu ärgern.
Ein Mädchen aus der Klasse 3a klingelt mit einer Glocke: Die Pause ist gleich zu Ende – und alle Kinder müssen ihre ausgeliehenen Spielgeräte zurückgeben. Nach der Schule hat die Schülerin heute Gitarren-AG, außerdem spielt sie Theater und dreht Filme. „Das macht mir besonders Spaß!“ Toll findet sie auch den Obstteller. Allerdings legt sie Wert darauf, dass sie selbst immer eine Brotbox dabei hat, „noch nie vergessen“. Vor allem mag sie Gurke und Apfel. Alle Kinder freuten sich darüber, sagt das Mädchen. „Alles ist immer ganz schnell weg.“
Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm oder armutsgefährdet. Die neue Kindergrundsicherung soll deren Startchancen verbessern. „Doch was ist das für eine Reform, die nicht für alle Kinder gilt?“, kritisiert Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit. Der Gesetzentwurf der Koalition sieht vor, die Leistung an den Aufenthaltsstatus zu knüpfen. Außen vor bleiben sollen Kinder, deren Eltern asylsuchend oder geduldet sind. „Die Kindergrundsicherung darf niemanden ausgrenzen“, stellt Siebernik klar. Das gilt auch für Kinder, deren Eltern arbeitslos sind und Bürgergeld beziehen. Die Pläne sehen vor, diese in der Zuständigkeit der Jobcenter zu belassen. „Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten – und nicht Anhängsel ihrer Eltern“, betont Siebernik. Gemeinsam mit dem Bündnis Kindergrundsicherung fordert die GEW, die Mittel deutlich zu erhöhen. Von den ursprünglich veranschlagten 7,5 Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung sind nur noch 2,4 Milliarden Euro vorgesehen.