Zum Inhalt springen

Nicaragua

Vulkan der Alpträume

Der Sieg der Sandinisten gegen den Diktator Somoza im Jahr 1979 galt vielen als eine Revolution mit menschlichem Antlitz. Unter seinem damaligen und heutigen Präsidenten Daniel Ortega droht Nicaragua jetzt in einer Spirale der Gewalt zu versinken.

„Ich bin entsetzt, wütend und traurig über die ausufernde Gewalt und die vielen Toten in Nicaragua“, erklärte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe.  „Das Morden muss gestoppt und die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, egal ob sie auf Seiten der Regierung oder der Opposition stehen. Jede Möglichkeit zum Dialog muss genutzt werden, um weiteres Blutvergießen zu verhindern.“

Mehr als dreihundert Tote seit April
In den vergangenen drei Monaten sind in dem kleinen Land, das zuvor zu den sichersten Zentralamerikas zählte, nach Angaben der nicaraguanischen Menschenrechtsorganisation ANPHD mehr als 300 Personen gewaltsam ums Leben gekommen. Die GEW unterstützt seit vielen Jahren Bildungsprojekte mit Partnern in dem Land und unterhält enge Kontakte zur nicaraguanischen LehrerInnengewerkschaft ANDEN. „Wir haben unsere für Juli geplante Schüler-Lehrer-Reise nach Diriamba absagen müssen“, berichtet der GEW-Kollege Wulf Hilbig, der seit Jahrzehnten Schulpartnerschaftsprojekte und Austauschprogramme der  Heinrich-Böll-Gesamtschule im hessischen Bruchköbel betreut.

Proteste gegen geplante Rentenkürzungen
Seit dem Beschluss der Regierung des Präsidenten Daniel Ortega im April 2018, die  Sozialversicherungsbeiträge zu erhöhen und gleichzeitig die Renten um fünf Prozent zu kürzen,  gibt es Massenproteste, auf die die Sicherheitskräfte mit teils brutaler Härte reagieren. Dem ehemaligen Guerillakämpfer Ortega und seiner Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo werden von der Opposition Vetternwirtschaft und autokratisches Regierungshandel vorgeworfen. Obwohl die geplante Rentenreform inzwischen zurückgenommen wurde, eskaliert die Gewalt weiter und das Land droht im Chaos zu versinken. Rathäuser und Polizeistationen werden von bewaffneten Gruppen angegriffen und zerstört. Überall gibt es Straßenblockaden, die die Bewegungsfreiheit massiv einschränken und das wirtschaftliche und soziale Leben weitgehend zum Erliegen gebracht haben.

Angriffe gegen Lehrkräftegewerkschaft ANDEN
Auch die Lehrkräftegewerkschaft ANDEN, die die Regierung Ortega unterstützt, ist Ziel der Angriffe:  „Sie haben unser Gewerkschaftshaus in Masaya in Brand gesetzt und die Häuser der ANDEN in Carazo und Río San Juan überfallen und ausgeraubt, sie haben 12 Lehrkräfte entführt (inzwischen wieder befreit) und einen Lehrer ermordet und sie bedrohen Lehrkräfte in ländlichen Gebieten im Norden und im Zentrum des Landes“, schreibt ANDEN-Generalsekretär José Antonio Zepeda in einer Mail an die GEW. Zepeda steht allerdings selbst in der Kritik, weil er als Abgeordneter der Regierungspartei FSLN und Mitglied der Leitung des Sozialversicherungsinstituts INSS die Rentenkürzungen mitbeschlossen hatte.

Widersprüchliche Meldungen
Die Lage im Land wird zunehmend unübersichtlich. In den sozialen Netzwerken kursiert eine Vielzahl widersprüchlicher Berichte und Meldungen, die die Stimmung weiter anheizen. Es besteht kaum ein Zweifel, dass Polizei und paramilitärische Gruppen, die der Regierungspartei FSLN nahestehen, mit ihrem kompromisslosen Vorgehen gegen die Protestbewegung für zahlreiche Tote verantwortlich sind. Aber auch die Opposition ist bewaffnet und will die Regierung Ortega stürzen. Zudem nutzen kriminelle Banden die Gunst der Stunde für Plünderungen und Brandschatzungen. In einigen Städten gibt es keinerlei öffentliche Ordnung mehr.

Das Nicaragua vor 2018 existiert nicht mehr
Eine Mitarbeiterin der ANDEN in Managua, die ein von der Fair Childhood Stiftung der GEW unterstütztes Projekt gegen Kinderarbeit im Kaffeeanbau betreut, berichtet über ihre aktuelle Situation: „Ich schlafe jeden Tag an einem anderen Ort. Die Mehrheit der Bevölkerung verschanzt sich bei Anbruch der Dunkelheit um 18.00 Uhr in ihren Häusern und lässt das Licht aus, während draußen Männer auf Motorädern durch die Straßen fahren und um sich schießen, ohne darüber nachzudenken, ob sie vielleicht Kinder oder Alte treffen könnten. Einen Tag ist es vielleicht ruhig, aber im nächsten Moment kann es schon wieder eine Schießerei geben. Es ist ein Ausmaß der Gewalt, wie wir es noch nie erlebt haben. Das Nicaragua, dass ihr vor 2018 kanntet, existiert nicht mehr, wir haben es verloren …“