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Kinder- und Jugendhilfe

Kratzen, Schlagen, Beleidigen

Gewalt gehört für viele Beschäftigte der stationären Kinder- und Jugendhilfe zum Berufsalltag. Präventionsmaßnahmen sollen sie vor Übergriffen schützen. Bisher sind diese in vielen Einrichtungen aber nicht ausreichend.

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Foto: imago images/photothek

Ein Zwölfjähriger hielt Heilerziehungspfleger Stefan Kruse* sein brennendes Feuerzeug vors Gesicht und drohte, ihn „abzufackeln“. Seit Stunden versuchten er und ein zweiter Junge, Betreuer und Bewohner der Wohngruppe unter Druck zu setzen. Kruse stieg auf die Provokation nicht ein, versuchte weiter zu deeskalieren. Ohne Erfolg: Im weiteren Konfliktverlauf warf ihm der andere Junge einen Apfel an den Kopf. Seit über drei Jahren arbeitet der Mittzwanziger in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Doch einen derart gezielten körperlichen Angriff erlebte er zum ersten Mal. Er sei „geschockt und fassungslos gewesen“, so der Pädagoge.

Kruse hatte Glück: Weil noch ein Kollege anwesend war, konnte er den Raum kurz verlassen. Als der Konflikt weiter andauerte, alarmierten sie schließlich die Rufbereitschaft und brachten einen der Jungen über Nacht in einer anderen Wohngruppe unter. In Team und Supervision hat Kruse den Konflikt anschließend besprochen und reflektiert. Er versteht heute, dass die Heranwachsenden eine körperliche Reaktion provozieren wollten, und hat das Erlebte für sich verarbeitet. „Die Kinder sind ja nicht ohne Grund, meist gegen ihren Willen, bei uns untergebracht“, so der Heilerziehungspfleger. Psychische Gewalt wie „Beschimpfungen und ärgste Beleidigungen“, gehörten in der Wohngruppe „zur Tagesordnung“. Wenn die Konflikte eskalierten, könne es zu körperlicher -Gewalt gegen die Betreuer kommen.

„Wichtig ist, dass die Fachkraft ihre Selbstsicherheit zurückgewinnt.“ (Michaela Lammers)

Mit dieser Erfahrung ist Kruse kein Einzelfall, bestätigt Sozialpädagogin Michaela Lammers. Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit „Gewalt als Berufsrisiko in der Kinder- und Jugendhilfe?!“ hat sie durch Interviews mit Fachkräften aus dem Berufsfeld festgestellt, dass die Erfahrung psychischer Gewalt „in vielen Fällen ein fester Bestandteil der Arbeit mit den Klientinnen und Klienten“ ist. Auch physische Gewalt wie Kratzen oder Schlagen sowie die Gewalt an Gegenständen „scheint keine Seltenheit zu sein“. Einige Interviewpartner berichteten von Vorfällen im Wochentakt. Belastbare Zahlen gibt es in Deutschland nicht, denn noch immer ist Gewalt gegen Fachkräfte ein „Tabuthema“, so Lammers. „Kommt es zu Übergriffen, werden diese nur intern im Team und in der Supervision thematisiert und bearbeitet.“ In England hingegen, wo seit Jahren zu der Problematik geforscht wird, haben „bis zu 92 Prozent der Fachkräfte der sozialen Arbeit psychische und jede dritte Fachkraft mindestens einmal physische Gewalt erfahren“, so die Sozialpädagogin.

Die Folgen sind gravierend: Werden diese Erfahrungen nicht angemessen bearbeitet, hinterlassen sie bei den Betroffenen Gefühle von Überforderung, Angst und Unsicherheit. Sie führen nicht selten zu Burnout und Kündigung. „Wichtig ist, dass die Fachkraft ihre Selbstsicherheit zurückgewinnt“, sagt Lammers. Ob das gelingt, hänge von der Persönlichkeit ab, aber gleichermaßen von Hilfe und Unterstützung durch Kollegen und Institution. Denn für die Expertin steht fest: Tritt die pädagogische Fachkraft selbstsicher und professionell auf, sinkt das Gewaltrisiko.

„In den Schulen werden die Fachkräfte nicht auf die Realität vorbereitet.“ (Yvonne Krieger)

Insbesondere Berufsanfänger stoßen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe „schnell an ihre Grenzen“, erzählt Yvonne Krieger, Geschäftsführerin der Backhaus Kinder- und Jugendhilfe (BKJH). Der private Träger unterhält 25 stationäre Wohngruppen in verschiedenen Bundesländern. „In den Schulen werden die Fachkräfte nicht auf die Realität vorbereitet“, so die Sozialpädagogin. Deshalb durchlaufen sie in der BKJH eine verlängerte Einarbeitungszeit von mindestens zwei Wochen. Danach steht ein Bereichsleiter als Ansprechpartner vor Ort jederzeit zur Verfügung. Darüber hinaus bietet der Träger eine Vielzahl von Präventionsmaßnahmen an.

Dass sich die Arbeits- oder Rahmenbedingungen des Trägers direkt auf die Sicherheit des Personals auswirken, berichtet Sozialpädagoge Andreas Feldmann. Als die Zahl der Kinder in der von ihm betreuten Wohngruppe von sechs auf zwölf verdoppelt wurde, ohne den Personalschlüssel zu erhöhen, nahmen Aggressionen und körperliche Übergriffe massiv zu. Spätestens nach der Kündigung einer von Gewalt betroffenen Kollegin wurde für das Team die fehlende Sicherheit offensichtlich, und „der Arbeitgeber musste handeln“. In der Folge wurden Personal aufgestockt und die Dienste zeitweise mit bis zu vier Fachkräften besetzt. Rufbereitschaften wurden eingerichtet – und in Anspruch genommen. Zudem gab es für betroffene Kollegen Fortbildungsangebote für Deeskalationsmethoden und Selbstverteidigung. „Nach diesen Qualifizierungen wirkten wir strukturierter und organisierter, als Einzelperson, aber auch als Team“, berichtet Feldmann. „Die Jugendlichen merkten, dass wir nicht mehr so leicht angreifbar sind.“ Die Übergriffe wurden seltener.

Lammers stellte in ihrer Forschungsarbeit fest, dass die Präventionsmaßnahmen in vielen Einrichtungen häufig nicht ausreichend sind. Die Sozialpädagogin fordert „individuelle Präventionskonzepte, die regelmäßig überarbeitet und an die Gruppen angepasst“ werden. Diese sollten alle Maßnahmen zusammenfassen, um „sowohl die Prävention wie auch das professionelle Verhalten vor, während und nach einer gewalttätigen Situation gewährleisten zu können sowie Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten für die Fachkräfte vorzuhalten“. Denn umfassende Konzepte würden pädagogischen Fachkräften das Gefühl der Sicherheit vermitteln und ihr Auftreten stärken. Dadurch verringere sich das Risiko, -Gewalt zu erfahren.

*Namen der pädagogischen Fachkräfte von der Redaktion geändert