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Oskar Negt

„Humanität benötigt Bindungen, die der Kapitalismus zerstört“

Anlässlich seines 85. Geburtstags hat die „Frankfurter Rundschau“ mit dem einflussreichen Sozialphilosophen Oskar Negt über die Notwendigkeit politischer Bildung gesprochen. Wir geben das Interview leicht gekürzt wieder.

Foto: Pixabay / CC0
  • FR: Die politische Bildung steht heute vor enormen gesellschaftlichen Herausforderungen. Es wird die Krise der Demokratie konstatiert, rechtspopulistische Bewegungen und Parteien erstarken, und die Folgen der Finanzkrise 2008 scheinen bis heute nachhaltig auf die gesellschaftspolitische Wirklichkeit und deren Wahrnehmung zu wirken. Sie haben mal formuliert, dass der Begriff der Politik ein Mangelphänomen der Linken sei, und sich folgerichtig dem -Politikbegriff zugewandt. Mit welchem Politikverständnis arbeiten Sie?

Oskar Negt: In dem Band „Maßverhältnisse des Politischen“ geht es um die Frage der ursprünglichen Konnotation von Politik. Der Gesamtzusammenhang der Gesellschaft, grob gesprochen, wäre Politik. So wie Plato das vorführt: Das sind nicht Einzelteile, das sind nicht Verfassungen, sondern Politik ist die Sorge um den Zusammenhalt menschlicher Stadtgesellschaften.

  • FR: Im Unterschied zu Aristoteles formulieren Sie, dass kein Mensch als politisches Lebewesen geboren wird. Der Mensch ist also kein „zoon politikon“?

Negt: Kein Mensch wird als politisches Lebewesen geboren, deshalb ist politische Bildung eine Existenzvoraussetzung jeder friedensfähigen Gesellschaft. Das Schicksal einer lebendigen demokratischen Gesellschaftsverfassung hängt wesentlich davon ab, in welchem Maße die Menschen dafür Sorge tragen, dass mit der berechtigten Realisierung eigener Bedürfnisse und Interessen das Gemeinwesen nicht beschädigt wird, in welchem Maße sie also bereit sind, politische Verantwortung für das Wohlergehen des Ganzen zu übernehmen. Das ist zwar auch eine Charakterangelegenheit, aber nicht allein. Es ist davon auszugehen, dass die blinde Macht der Verhältnisse nicht alle Handlungsfelder besetzt.

  • FR: An welche Handlungsfelder denken Sie?

Negt: Das wesentliche Handlungsfeld der politischen Bildung ist die demokratische Grundordnung. Denn Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins hohe Alter hinein. Das sind Lernprozesse, die beginnen in den Familien und in den Kindertagesstätten, und sie enden nicht im Seniorenheim. Auch die größten individuellen Anstrengungen reichen nicht aus, der politischen Bildung einen Rang in der Gesellschaftsordnung und ihrem kollektiven Bewusstsein zu verschaffen, durch den alle Handlungskompetenzen gebündelt und auf Veränderungsziele gerichtet sind.

  • FR: Veränderungsziele heißt?

Negt: Politische Bildung kann nicht gelingen, wenn die Systemfrage ausgeklammert bleibt. Wo sie einbezogen ist, werden sofort auch die Grenzen sichtbar, die dem politischen Handeln als Bildung gesetzt sind. Es ist davon auszugehen, dass unsere Erfahrungswelt durch fundamentale Umbrüche bestimmt ist. Die Zerrissenheit unserer Gesellschaft ist so groß, weil machtgestützte zentrifugale Kräfte am Werk sind, die einen gesellschaftlichen Zusammenhang sprengen können. Die Finanzkrise ist nur ein Ausdruck dieser Selbstzerrissenheit der Verhältnisse.

  • FR: Sie sprechen von Bindungs-, Orientierungs- und Erfahrungsverlust und verwenden den Begriff der kulturellen Erosionskrisen. Können Sie diesen Zusammenhang spezifizieren?

Negt: Wenn ich von kulturellen Erosionskrisen spreche, die sich dadurch auszeichnen, dass alte Werte, Haltungen, Normen nicht mehr ungesehen gelten, neue noch nicht da sind, aber intensiv gesucht werden – dann heißt das für die Struktur von Lernprozessen, dass Bildung immer ein doppeltes Ziel hat: Sachwissen zu vermitteln und Orientierungen anzubieten.

  • FR: In welchem Zusammenhang stehen diese Erosionskrisen mit der von Ihnen genannten Systemfrage?

Negt: Es gibt drei große Entwertungen durch den Kapitalismus: Das ist einmal die Entwertung von Bindung, das zweite ist die Entwertung von Erinnerung und drittens die Entwertung von Erfahrung. Bindung bedeutet die Objektfixierung des Menschen und die innere Fixierung des Menschen. Das sind Dinge, die dem kapitalistischen System widersprechen. Deshalb ist die Frage der Bindung für mich so wichtig. Wenn Bindungen aufgelöst werden, suchen sich die bindungsbedürftigen Menschen oft falsche Objekte. Sie versuchen einen erodierenden Lebenszusammenhang irgendwie erträglich zu machen. Durch die Entwertung von Bindung verschwindet das Bindungsbedürfnis nicht, sondern ganz im Gegenteil. Der Rechtsradikalismus nutzt dieses Bedürfnis aus.

  • FR: Kulturelle Erosionskrisen, wie Sie sie jetzt beschrieben haben, bestehen also unter anderem in der Zerstörung von Bindungen, Vertrauensverhältnissen und Orientierungen. Was haben diese Elemente mit Bildung bzw. politischer Bildung zu tun?

Negt: Ich habe diese Fragen von Bindungen, Vertrauensverhältnissen, Orientierungsbedürfnissen an den Anfang meiner Erörterungen zur politischen Bildung gerückt, weil gelingende Lernprozesse einer emotionalen Grundlage bedürfen, die den kognitiven Operationen Kraft und Ausdauer verleihen. Und hier wird nun ein politisch prekäres Problem fassbar. In dem Maße, wie es einer demokratischen Gesellschaftsordnung nicht gelingt, diese gestörten Bindungen und Vertrauensverhältnisse durch attraktive Angebote auszugleichen, sind rechtsradikale Kolonnen auf dem Wege, die Lücken und Brüche, jetzt auch im gesamteuropäischen Kontext, für sich zu nutzen, um alte Autoritätsverhältnisse herzustellen, die den Abbau demokratischer Selbstbestimmungsrechte fördern und am Ende eine Gesellschaft herstellen, deren Katastrophenpolitik gerade Gegenstand kritischer politischer Bildung sein muss.

  • FR: Sie sprechen von der Notwendigkeit der Ortsbestimmung politischer Bildung. Was meinen Sie damit?

Negt: Wenn ich von Ortsbestimmung der politischen Bildung spreche, dann ist der bemerkenswerte Sachverhalt zu erwähnen, dass sie in der Wertehierarchie immer dann nach oben rückt, wenn die gesellschaftlichen Katastrophen bereits passiert sind. Die Weimarer Zeit ist voll von Bildungsinitiativen, in der Erwachsenenbildung ebenso wie in der Schule. Nach Faschismus und Krieg gibt es einige Zeitverschiebungen, aber auch hier ist in Deutschland im Zuge der Aufarbeitung der Vergangenheit viel in der Nachkriegszeit geleistet worden, was man mit Fug und Recht als kreative Ansätze bezeichnen kann. Aber gerade politische Bildung kann ihr Selbstverständnis nicht daraus beziehen, ihre ganze Kraft auf Gegenwartsanalysen zu konzentrieren und sich mit dem bereits Abgeschlossenen zu beschäftigen. Hegel hatte die Philosophie auf das bloße Begreifen des schon fertigen Zustands der Welt verpflichtet. In der „Rechtsphilosophie“ sagt er: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, nur mit Grau und Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Wo die Verhältnisse, wie immer scharfsinnig, Grau in Grau gemalt werden, fehlt in der Tat jede Leidenschaft der Veränderung. Ohne diese wird auch die Analyse einseitig und verliert den Bezug zum Sinngehalt des Ganzen.

Frankfurter Rundschau vom 1. August 2019, Interview: Waltraud Meints-Stender und Dirk Lange © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt.

Oskar Negt wurde am 1. August 1934 in Ostpreußen geboren. Er studierte bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und war Assistent von Jürgen Habermas. Seit 1968 war Negt einer der Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition. Von 1970 bis 2002 war Negt, der seit vielen Jahren GEW-Mitglied und E&W-Autor ist, Professor für Soziologie in Hannover. 

Waltraud Meints-Stender ist Professorin für politische und kulturelle Bildung an der Hochschule Niederrhein.

Dirk Lange ist Professor für die Didaktik der politischen Bildung an der Leibniz-Universität Hannover und der Universität Wien.